Ausgabe 03/2022
Im Jahr ohne Sommer
Timo Feldhaus: Mary Shelleys Zimmer
Wenn es um Wolken ging, geriet sogar der Dichterfürst ins Schwärmen. Fast alle wollten mit ihm über den Faust sprechen, dabei verstand Goethe sich auch als Naturforscher. Carl August, Großherzog von Weimar, wusste das. Darum gab er seinem Geheimrat im Winter 1815/16 den neuen Almanach der Physik. Darin stand etwas von Cumulus und Stratus. Ein Text, der den Himmel las! "Das ist ein Neuanfang", rief Goethe aus. Wie treffend das war, im poetischen wie im grausamen Sinn, dürfte nicht einmal er geahnt haben. Kurz zuvor, im April, war der Tambora ausgebrochen – ein Vulkan auf der Insel Sumbawa im heutigen Indonesien. 70.000 Menschen starben vor Ort. Staub, Asche und Schwefel legten einen Schleier um die Erde, sodass es in Europa 1816 zu einem "Jahr ohne Sommer" kam.
Von jenem Jahr erzählt der Journalist Timo Feldhaus, und er verzichtet dabei auf die Distanz des Berichterstatters. Am Beispiel einiger Intellektueller der Zeit zeigt er, wie die Gespenster der Moderne erschaffen wurden. Auf der Grundlage intensiver Recherche legt Feldhaus den Persönlichkeiten Worte in den Mund, die nicht so ausgesprochen worden sein mögen, dem Text aber eine wahrhaftige Literarizität verleihen. Seine Sprache gleitet zwischen feiner Ironie und elegantem Parlierton. So macht er Giganten der Zeit mühelos zu seinen Figuren.
Dabei lässt es sich nachempfinden, wie Napoleon Bonaparte die Schlacht bei Waterloo auch aufgrund des vulkanausbruchbedingten Regens verlor und danach in der Verbannung auf der Insel St. Helena bei schlechtem Wetter vor sich hin grollte. Wie die Bilder des Naturmalers Caspar David Friedrich plötzlich ganz neue Farbtöne erhielten. Im Mittelpunkt aber steht die Dreiecksbeziehung zwischen Lord Byron, Percy und der 18-jährigen Mary Shelley. Denn der Nicht-Sommer, den die Drei in der Villa Diodati am Genfer See verbrachten, gebar das berühmteste Ungetüm der Literaturgeschichte: Frankensteins Monster. Wegen der Kälte mussten sie meist im Haus bleiben, und in diesen dunklen Monaten rief Lord Byron einen Wettstreit um die beste Schauergeschichte aus. Den gewann Mary Shelley mit ihrem Science-Fiction-Roman. Der Ruhm setzte erst nach dem Tod der Autorin ein. Dass man es bei ihr aber mit einer der bedeutendsten Schriftstellerinnen des 19. Jahrhunderts zu tun hat, daran lässt Feldhaus in seinen präzis entworfenen Szenen keinen Zweifel. Christian Baron
Rowohlt, 320 S., 26 €
Edo Popović: Mondmeridian
Kroatien in naher Zukunft. Das Land ist gespalten: in die Angepassten und Reichen auf der einen Seite, die Außenseiter und Arbeitslosen auf der anderen. Konsum und Karriere bestimmen das Leben, die Umweltzerstörung schreitet unaufhaltsam voran, und das Biotechnologie-Unternehmen SalarLab züchtet Menschoide, die in der Produktion eingesetzt werden. Weit entfernt von Zagreb lebt eine friedliche Gruppe von Menschen in einem naturbelassenen Tal. Sie werden die "Vergessenen" genannt, wohnen in Holzhütten, bauen alles selbst an und fühlen sich eng verbunden mit Pflanzen und Tieren. Die Welt außerhalb des Tals ist für sie tabu, denn dort leben angeblich die "Vergifteten". Zwischen den "Vergessenen" und den "Vergifteten" gibt es keinerlei Kontakt, Besuche sind verboten. Doch zwei junge Frauen glauben den Geschichten nicht und brechen auf in die jeweils andere Welt. Mila will unbedingt ins Tal und die Kaj zieht es in die Stadt. Eine raffinierte literarische Konstruktion, denn so bewegen sich die unterschiedlichen Welten aufeinander zu, und es offenbaren sich zwei Lebenslügen. Edo Popović geht in seiner Dystopie spielerisch und spannend den Fragen nach, ob es ein besseres und naturnahes Leben geben kann. Günter Keil
btb, Übersetzung von Alida Bremer, 256 S., 12 €
Santiago Lorenzo: Wir alle sind Widerlinge
In Spanien war diese ironische Parabel auf den Irrsinn des modernen Freizeitlebens und das Glück der Einsamkeit ein Bestseller. Zum Plot: Manuel flüchtet aus Madrid, denn er hat in Notwehr einen Polizisten verletzt. In einem verlassenen Dorf taucht er unter und findet dort seinen Seelenfrieden. Er versorgt sich selbst, baut ein heruntergekommenes Häuschen wieder auf und beschäftigt sich nur noch mit Nichtigkeiten. Manuel schläft lange, geht ohne Ziel spazieren und spürt mit jeder weiteren Woche, mit jedem Monat, wie glücklich ihn das Alleinsein macht. Er genießt die Verkargung, wie er seinen Rückzug nennt. Doch dann beziehen Leute aus der Stadt das Haus nebenan. Sie feiern und lärmen, glotzen laut Trash-TV und hören Hitparadengedudel. Und natürlich bimmeln ständig ihre Handys. Manuels Ruhe und Selbstversunkenheit ist dahin, und so beschließt er, sich zu rächen. Seine Freiheit zu verteidigen. Mit trockenem Humor erzählt Santiago Lorenzo diese Geschichte über den Kampf Minimalismus gegen Vergnügungswahn, Achtsamkeit gegen Freizeitterror. Ein modernes Märchen über die Absurdität unseres Freizeitverhaltens. Günter Keil
Heyne, ÜBersertzung von Karolin Viseneber und Daniel Müller, 240 S., 20 €