Ausgabe 04/2022
Spiegelverkehrte Arbeitswelt
In den letzten Wochen wurden mir immer wieder Artikel zu IT-Jobs mit dem Hinweis angezeigt: "Wenn du im Krieg deinen Job verloren hast, dann kannst du dich in IT versuchen." Leider sind nach dem 24. Februar die Worte Entlassung und Einsparungen in der Ukraine keine Seltenheit. Sowohl Statistiken als auch persönliche Beispiele von Menschen bestätigen die traurige Tatsache. Angesichts des russischen Vernichtungskrieges gegen die Ukraine ist von der ukrainischen Wirtschaft derzeit auch kaum etwas anderes zu erwarten.
Laut der Weltbank müssen die Ukrainer dieses Jahr mit einem Wirtschaftseinbruch von 45 Prozent rechnen. Die Situation ist aber nicht für alle gleich. Manche finden die Kraft und Motivation, ihre Herangehensweise an das Geschäft zu ändern, und haben trotz aller Schwierigkeiten sogar Erfolg. Solche Geschichten sind inspirierend (ich habe darüber in meiner vorherigen Kolumne geschrieben, ver.di publik 03_2022), aber die Zahlen sind immer noch unerbittlich. Der Direktor des ukrainischen Zentrums für Wirtschaftsstrategie, Hlib Wyschlinskij, gibt an, die Arbeitslosigkeit sei von 9 Prozent im Februar auf 27 Prozent im März gestiegen und im April leicht auf 26 Prozent gesunken. Nach der Umfrage der Gruppe "Rating" vom 26. April sind 39 Prozent derjenigen, die vor dem Krieg Arbeit hatten, immer noch arbeitslos. Auch die Stellenangebote gingen um ein Fünftel zurück.
Auf Jobsuche im Wiederaufbau
Im ersten Monat der großangelegten russischen Invasion verhielten sich viele Beschäftigte still. Viele erwarteten auch, dass diejenigen Unternehmen, die ihre Gehälter im März nicht zahlten, dies irgendwann noch tun würden, und alle zum Arbeitsrhythmus der Vorkriegszeit zurückkehren könnten. Doch dies geschah nicht. Vielmehr gehen die finanziellen Reserven vieler Ukrainer zur Neige und sie suchen nach Arbeit. Am leichtesten findet sich die, statistisch gesehen, in den Bereichen Vertrieb und IT, Transport und Logistik sowie im Bau. Es wird erwartet, dass die Bauindustrie florieren wird. In den Städten, in die die Ukrainer zurückkehren, hat der Prozess des Wiederaufbaus schon begonnen. Für Anwälte, Pädagogen, Wissenschaftler und Versicherer gestaltet sich die Arbeitssuche hingegen am schwierigsten. Daher versuchen Vertreter dieser Berufe inzwischen ihren Job zu wechseln, die IT-Branche wurde zu einer Option.
Lange Zeit entwickelte sich dieser Sektor in der Ukraine sehr dynamisch. Im vergangenen Jahr beliefen sich die Einnahmen aus dem Export von Dienstleistungen im IT-Bereich auf 4 Prozent des ukrainischen Bruttoinlandsprodukts. Heute ist der IT-Sektor einer der am wenigsten vom Krieg betroffenen. Arbeitnehmer können aus der Ferne arbeiten, die Erfahrung mit der Pandemie ist hier zu einer bewährten Praxis geworden. In den ersten Kriegswochen berichteten Unternehmensvertreter von einem leichten Rückgang der Aufträge, später besserte sich die Situation jedoch allgemein. Dennoch: Auch einige IT-Unternehmen, darunter solche, die für den heimischen Markt tätig sind, mussten bereits Mitarbeiter entlassen. Wenn vor dem Krieg das Arbeitsangebot in diesem Bereich zwei- bis dreimal höher war als die Nachfrage, so ist die Situation jetzt nahezu spiegelverkehrt.
Olha Vorozhbyt ist stellvertretende Chef-Redakteurin des ukrainischen Nachrichtenmagazins Ukrajinskyi Tyschden. Seit der Ausgabe 03_2022 schreibt sie regelmäßig für uns ein Update aus der Arbeitswelt in der Ukraine.