Ausgabe 05/2022
Alle wollen weg
Was ist geblieben vom grundlegenden Umdenken beim Reisen, dem Trend zu mehr Nähe und Nachhaltigkeit, der während der zwei Jahre Corona-Ausnahmezustand immer wieder thematisiert wurde? Damals, als das Topthema Spaziergänge waren? Diesen Sommer 2022 jedenfalls wollen alle weg. Die Reiselust ist größer denn je.
"Die Menschen haben in keiner Weise die Wertschätzung fürs Reisen verloren. Weder wollen sie weniger reisen noch weniger weit weg", sagt Martin Lohmann von der Forschungsgemeinschaft Urlaub und Reisen (FUR). Im Gegenteil, so ein Ergebnis der Reiseanalyse von FUR, die Menschen haben Nachholbedarf. Vor Beginn des Ukrainekrieges planten 61 Prozent der Befragten in diesem Jahr eine Urlaubsreise ein. Und wenn es um ihren Urlaub geht, sind die Bundesbürger opferbereit. Ob Flughafenchaos, Inflation, die Warnungen vor der hochansteckenden Coronavariante BA.5 oder Hitzewellen – die Verheißung sonnendurchfluteter Strände hat nichts an Attraktivität verloren. Die Menschen sind reif für die Insel und erschöpft von den Anfechtungen durch Virus, Krieg und Klimawandel.
Das große Fernweh
Stark nachgefragt sind die Dominikanische Republik und die Malediven. "Die Fernreise ist zurück", sagt Torsten Schäfer vom Deutschen Reiseverband (DRV). Auch TUI plant in Zukunft weiteres Wachstum auf der Fernstrecke. "Der Senegal wird unser Geheimtipp für den kommenden Winter. Das Land bietet eine spektakuläre Natur mit Traumstränden," steht in einer Pressemitteilung des Reisekonzerns. Nach zwei Corona-Sommern in heimischen Gefilden ist Tapetenwechsel angesagt. Die Menschen wollen raus.
Und am Urlaub wird nicht gespart. "Es gibt kaum ein Segment oder ein Ziel, das aktuell nicht nachgefragt wird", sagt TUI-Sprecher Aage Dünhaupt. "Für die Mehrheit unserer Gäste ist der Urlaub die größte und wichtigste Konsumausgabe des Jahres. Eine Woche "all inclusive", für zwei Erwachsene und zwei Kinder, das geht bei 2.000 Euro los", sagt Dünhaupt. Die meisten Kunden würden aber für 2.500 bis 3.500 Euro die Woche buchen – Vier-Sterne-Hotels in Spanien oder der Türkei. Man gönne sich etwas, der Anspruch steige.
Wie sich der Angriffskrieg Russlands auf die Ukraine auf die Nachfrage auswirkt, ist den Veranstaltern zufolge derzeit noch nicht abzusehen. Grundsätzlich hätten Katastrophen, Kriege und Terror in den vergangenen Jahrzehnten an der Nachfrage nichts geändert, weiß FUR-Tourismusforscher Lohmann. Urlauberinnen und Urlauber weichen einfach auf andere Ziele aus.
Dass der aktuelle Tourismusboom lange anhält, kann allerdings bezweifelt werden. Bei einer Inflation von acht Prozent wird jeder Geldbeutel schneller leer. Wenn Energie noch teurer wird und die Nachzahlungen kommen, bleibt weniger in der Kasse. Und TUI-Sprecher Dünhaupt warnt bereits, dass die im vergangenen Jahr zu vergleichsweise günstigen Preisen eingekauften Kontingente demnächst auslaufen. "Die Inflation durch gestiegene Energiekosten und Lebensmittelpreise wird auch bei der Reise nicht haltmachen – perspektivisch wird sich diese Entwicklung beim Reisen auswirken", sagt auch DRV-Sprecher Torsten Schäfer.
Vorboten des Boom-Endes
Steigende Preise und wachsender Flugärger sind da möglicherweise Vorboten vom Ende des Booms: Easyjet kündigte an, weitere Flüge zu streichen – über die 1.000 Verbindungen hinaus, die schon von Juni bis August allein am BER, dem Berliner Flughafen ausfallen. Die Lufthansa hat für die Sommerferienzeit mehr als 3.000 innerdeutsche und innereuropäische Flüge an den Drehkreuzen Frankfurt und München "aus dem System genommen", wie ein Sprecher sagt. Bei der Lufthansa-Tochter Eurowings sind es Hunderte weitere Flüge, die nicht wie geplant stattfinden. Die Airlines demontieren sich selbst.
Und dann ist da noch das Klima, die steigenden Temperaturen. Tröstete man sich zu Coronazeiten mit der aufkeimenden Flugscham, weil man ohnehin nicht reisen konnte, oder ist die Flugscham als Reaktion auf die Klimakrise gesellschaftlich heute tatsächlich von Bedeutung? "Immer mehr Menschen finden, dass in den beiden Dimensionen sozial und ökologisch die Nachhaltigkeit für sie ein wichtiger Aspekt ist", weiß Lohmann aus den Ergebnissen der jährlichen Reiseanalyse. "Da gibt es schon mehr Aufmerksamkeit auf die Transportmittel. Es gibt auch eine wachsende Bereitschaft zu kompensieren, wenn man schon klimamäßig Unfug anstellt", so Lohmann.
Nur: Nachhaltigkeit sei eine Bedingung, unter der man gerne Urlaub machen möchte, aber letztlich für die Produktentscheidung nicht ausschlaggebend. Der einwöchige Bali-Trip gehöre noch lange nicht der Vergangenheit an. "Jedenfalls nicht aus Einsicht. Wenn, dann wird es solche Reisen weniger geben, weil die Möglichkeiten geringer werden und die Kosten steigen", sagt Lohmann. Wichtiger als die Einstellung sei daher, dass sich im Flugbereich auf der Angebotsseite etwas verändert: weniger Kapazitäten zu höheren Preisen.
Dabei gilt manchen der Billigflieger ans Mittelmeer als Garant gesellschaftlicher Teilhabe. Doch er ist nicht nur eine große CO₂-Schleuder, sondern auch ein renditeorientierter Ausbeuter. Obwohl die Branche in der Coronakrise Milliarden an staatlichen Hilfen erhielt und Kurzarbeiterregelungen in Anspruch nehmen konnte, hat sie in großem Stil Personal abgebaut, das jetzt überall fehlt.
Massentourismus oder Nachhaltigkeit
Wenn sich vor den Corona-Lockdowns die Menschen an den Besucherhotspots drängelten und überall von Massentourismus die Rede war, dann deshalb, weil Billigflieger dorthin flogen, weil die Mittelschichten weltweit diese Infrastruktur parallel zu ihrem wachsenden Wohlstand auch nutzten. Kerosinbesteuerung, Regulierungen der allgemeinen Reisetätigkeit durch die Politik oder faire Preise für faire Produkte gelten vielen deshalb als Bedrohung ihrer politisch verbürgten Rechte.
Alte Verhaltensweisen und chaotische Transportbedingungen – so sieht es im Sommer 2022 aus. Der standardisierte Tourismus, der nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs entstand, gehört heute wie selbstverständlich zu unserer Lebensweise. Und er steht für das Versprechen auf Teilhabe aller Menschen am hart erarbeiteten Wohlstand in der Wohlstandsgesellschaft. Die Tourismusindustrie ist ein Erfolgsmodell, das auf stetigem Wirtschaftswachstum beruht und auf uneingeschränktem Ressourcenverschleiß, genauer gesagt: auf Verbrauch und Vermüllung, auf Betonierung der Strände und Schädigung des Klimas.
"Auf der Branchenseite hat die Coronakrise so etwas wie ein Wachrütteln ergeben", sagt Tourismusforscher Lohmann. "Man dachte immer nur an Wachstum. Da ist man vorsichtiger geworden und legt mehr Wert auf seine Widerstandskraft, um durch die nächste Krise zu kommen. Das tut der Branche gut."
Doch nicht nur in der Branche hat das Umdenken hin zu mehr Nachhaltigkeit beim Reisen zumindest begonnen. Länger, intensiver, seltener – das empfehlen tourismuskritische Portale für Fernreisen längst. Es gibt nachhaltige Angebote, von denen die entsprechenden Regionen profitieren und auch Veranstalter, die sie anbieten. Und auch das bodenständige Reisen mit dem Zug wird immer stärker praktiziert, obwohl es auch dort gerade das große Drängeln gibt. Es ist der Zug der Zeit.
EDITORIAL
Nach zwei Coronajahren lebt der Tourismus wieder auf. Wer es sich leisten kann, ist auf und davon in diesem Sommer. Viele haben dafür gespart, endlich wie der so richtig Urlaub zu machen. Doch wie macht man richtig Urlaub, wenn die Sommer immer heißer und das Urlaubsgeld jedenfalls in den derzeitigen Krisen für viele immer knapper wird? Wir sind nachhaltig über die Alpen gegangen, nachdenklich durch Nancy und haben einen Heißluftballon in Israel bestiegen. Auch wir wollten mal wieder weg.
Petra Welzel