Ausgabe 06/2022
Wir laufen uns warm
Der Müll wird nicht abgeholt, Busse und Bahnen bleiben in ihren Depots – als 1974 rund 200.000 Beschäftigte des öffentlichen Dienstes, allen voran die Müllwerker und die Beschäftigten des öffentlichen Personennahverkehrs, Deutschlands Kommunen drei Tage lang lähmen, schreiben sie Geschichte. Im Zuge der Ölkrise im Jahr zuvor – ausgelöst durch den Angriffskrieg, den Ägypten und Syrien gegen Israel führten – sind die Preise um knapp 7 Prozent gestiegen. An den Tankstellen wird zeitweise das Benzin rationiert, Tempolimit, autofreier Sonntag – die damalige Bundesregierung ergreift verschiedene Sparmaßnahmen, um die Folgen der Öl-Abhängigkeit von den Golfstaaten, die wegen des Krieges die Preise in die Höhe treiben, abzumildern.
Doch alles sparen hilft nichts, bei vielen Menschen reicht das Geld vorn und hinten nicht mehr und immer mehr verlieren zudem ihren Arbeitsplatz. In Nullkommanichts hat sich die Erwerbslosenquote mit Beginn der Ölkrise verdoppelt. Der erste große Arbeitskampf und Streik nach dem 2. Weltkrieg, nämlich der von 1974, er war auch der großen Sorge vieler geschuldet, zu verarmen.
Geschichte wiederholt sich, könnte man meinen. Wieder hat ein Krieg, der Angriffskrieg Russlands auf die Ukraine, eine Energiekrise ausgelöst. Wieder ergreift die Bundesregierung Maßnahmen, um sich aus der Energieabhängigkeit – dieses Mal von Russland – zu lösen, und sie schnürt Entlastungspakete. Wieder sind viele Bürgerinnen und Bürger besorgt um ihre Existenz, fragen sich, ob sie mit ihren Einkommen bei den anhaltend steigenden Preisen noch über alle Runden kommen werden.
Und wieder rumort es unter den Beschäftigten, wieder laufen sich auch die Müllwerker der öffentlichen Entsorgungsbetriebe warm für die anstehende Tarifrunde bei Bund und Kommunen, die Anfang 2023 beginnen wird. Bei der Berliner Stadtreinigung (BSR) zum Beispiel. Noch ist keine Forderung aufgestellt, aber der ver.di-Vorsitzende Frank Werneke wird nicht müde zu betonen, dass steigende Preise auch entsprechend steigende Löhne erfordern.
Vor allem: Aus ver.di-Sicht können die aktuellen Soforthilfen der Regierung nur eine "Brücke" sein, wie Werneke sagt. Aber die trägt noch nicht. ver.di fordert weitere Entlastungen. "Die große Schwäche des Entlastungspakets III ist, dass die angedachten Maßnahmen ganz überwiegend nicht in diesem Jahr greifen – das betrifft zum Beispiel den Strompreisdeckel ebenso wie einen erweiterten Wohngeldbezug", so der ver.di-Vorsitzende. Hohe Rechnungen und Abschlagszahlungen für Strom und Gas würden aber jetzt fällig.
Solidarisch durch die Krise
500 Euro noch in diesem Jahr als Energiehilfe für alle einschließlich Rentnerinnen und Rentner und Studierende sowie für Familien mit Kindern je Kind noch einmal 100 Euro zusätzlich, das brauche es jetzt sofort. Genauso wie einen Mietenstopp und ein bezahlbares Nachfolgemodell für das 9-Euro-Ticket und auch einen Schutzschirm für alle öffentlichen Einrichtungen. Auch Krankenhäuser ächzen unter den hohen Energiekosten.
Bereits vor der zweiten Runde im Bundeskanzleramt mit Arbeitgebern und dem Kanzler Mitte September, der sogenannten Konzertierten Aktion, hat ver.di Proteste angekündigt. "Die werden dann notwendig, wenn die Bundesregierung die Bürgerinnen und Bürger nicht ausreichend entlastet", so sagte es Frank Werneke etwa der Augsburger Allgemeinen im Vorfeld. Und da eine weitere Energiepauschale von mehreren hundert Euro nicht in Sicht ist, ruft ver.di zusammen mit dem Paritätischen Wohlfahrtsverband, dem BUND, attac, Campact und der Initiative Finanzwende deshalb jetzt zu bundesweiten Demonstrationen am 22. Oktober auf. Unter dem Motto: Solidarisch durch die Krise!
Bund und Kommunen werden so im Herbst und Winter auch einen Vorgeschmack auf die Tarifauseinandersetzung im kommenden Jahr bekommen. Bei der BSR organisieren die Vertrauensleute im Betrieb bereits jetzt neue Mitglieder und auch schon ihre Streiktrupps. Pascal, seit zehn Jahren bei der BSR und einer der Vertrauensmänner, sagt in einem Clip für die ver.di-Tarifkampagne "Zusammen geht mehr", dass er durch seine Gespräche mit den Kolleginnen und Kollegen schon spüre, wie bei allen "das Feuer in der Brust langsam" brodele.
Ihre Vorläufer 1974 hatten seinerzeit übrigens 15 Prozent mehr Geld gefordert, drei Tage gestreikt und dann 11 Prozent bekommen. Wenn das keine Steilvorlage ist.
Mehr Informationen zu den Demonstrationen am 22. Oktober ab dem 1. Oktober unter verdi.de