Ausgabe 01/2023
Nicht kleckern, klotzen
Fast ein Fünftel aller Beschäftigten, knapp sieben Millionen Menschen – davon überwiegend Frauen – haben seit dem 1. Oktober 2022 einen gesetzlichen Anspruch auf den Mindestlohn. Im Herbst letzten Jahres wurde dieser in einem großen Schritt auf 12 Euro erhöht. Fast zwei Euro wurden draufgelegt. Im Schnitt haben so Millionen Beschäftigte seither über 100 Euro mehr im Monat zur Verfügung, 19 Prozent von ihnen sogar mehr als 200 Euro. Das ist ein weiterer, riesiger Erfolg in der Geschichte des Mindestlohns, den sich ver.di ins Logbuch schreiben kann. Auch deshalb, weil sich die Schwarz-malerei der Wirtschaft, die mit jeder Erhöhung des Mindestlohns das Aus für etliche Unternehmen und den massiven Verlust von Arbeitsplätzen verkündet, bisher als Trugbild erwiesen hat. Zuletzt zeigte das eine Studie des Zentrums für Europäische Wirtschaftsforschung im Auftrag der Mindestlohnkommission von 2022. Laut der Untersuchung sind durch den Mindestlohn manche Branchen sogar produktiver geworden. Tatsächlich haben die Einführung des Mindestlohns 2015 und die folgenden Erhöhungen kaum zum Verschwinden von Unternehmen geführt. Und tatsächlich müssen viele von ihnen inzwischen deutlich mehr als 12 Euro die Stunde zahlen, weil überall Fachkräfte fehlen und die jetzt nämlich dorthin gehen, wo sie anständig bezahlt werden.
Die Erhöhung des Mindestlohns auf 12 Euro stand lange fest, bevor im zurückliegenden Jahr die Inflation wegen Russlands Angriffs-krieg auf die Ukraine und der damit verbundenen Verteuerung der Energie- und Lebensmittelpreise geradezu im Galopp angestiegen ist. Mit den durchschnittlich über 100 Euro mehr im Monat hätten die Beschäftigten in den Niedriglohnbranchen ohne die enorme Inflation ein wenig Luft und mehr Möglichkeiten der Teilhabe gehabt. Jetzt fressen die gestiegenen Preise das Plus im Einkommen schon wieder auf. Ein Grund mehr, auch bei der kommenden Erhöhung des Mindestlohns nicht zu kleckern, sondern zu klotzen. Allen Gegnern zum Trotz.