Die große Koalition kann sich bisher nicht auf neue Regeln für den Niedriglohnbereich einigen. Die SPD hat nun ein Konzept für steuerfreie Einkommen vorgelegt

Seit Monaten berät eine Arbeitsgruppe der Bundesregierung, wie die im Koalitionsvertrag vorgesehene "Neuregelung" im Niedriglohnbereich aussehen soll. Schon heute verdienen über 400000 Vollzeitbeschäftigte so wenig, dass ihr Gehalt durch Arbeitslosengeld-II aufgestockt ist. Tendenz steigend.

ver.di fordert seit langem einen gesetzlichen Mindestlohn von 7,50 Euro pro Stunde. Während die Union dies strikt ablehnt, legten die Sozialdemokraten im Januar einen Vorschlag vor, der einen gesetzlichen Mindestlohn von 4,50 Euro beinhaltet. Grundlage des SPD-Modells ist ein Papier des Wirtschaftsweisen Peter Bofinger zur "negativen Einkommenssteuer", das er zusammen mit dem Vizedirektor des Instituts für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung, Ulrich Walwei, verfasst hat. Sie empfehlen: Wer mehr als 30 Stunden arbeitet, soll 750 Euro steuerfrei verdienen können; für Eheleute gilt ein Freibetrag von 1300 Euro. Zugleich bekommen die Niedriglohnverdiener die Sozialversicherungsbeiträge ersetzt.

Minijobs sollen sozialversichert werden

Im Klartext heißt das: Brutto gleich Netto. Zuschüsse soll es - in sinkendem Maße - bis zu einem Einkommen von 1200 Euro geben. Zugleich wollen Bofinger und Walwei die Zuverdienstmöglichkeiten für Arbeitslosengeld-II-Empfänger beschneiden: Sie sollen nur noch 15 Prozent des zusätzlichen Lohns behalten dürfen. Bisher gilt ein Freibetrag für die ersten 100 Euro und danach sind noch 20 Prozent des Verdienstes anrechnungsfrei. Außerdem wollen die Wirtschaftswissenschaftler sozialversicherungsfreie Minijobs abschaffen. Sie gehen davon aus, dass das Konzept den Staat etwa 4 Milliarden Euro kostet.

Astrid V. hätte künftig weniger Geld zum Leben, wenn die Pläne umgesetzt würden. Die Erzieherin bessert ihr Arbeitslosengeld II durch einen 400-Euro-Job auf. 160 Euro darf sie heute behalten; nach dem Bofinger-Walwei-Modell blieben nur 60 Euro.

Für den Wachmann Thomas P. wäre die Neuregelung dagegen von Vorteil. Gegenwärtig verdient er 761,20 Euro - die Neuerung würde ihm ein Plus von 160 Euro im Monat bescheren. Auf dem Konto von Hubert K., der im selben Betrieb arbeitet, täte sich eine Lücke von einigen Euro im Monat auf, denn er bezieht ergänzend Arbeitslosengeld II.

Allerdings bekommen längst nicht alle Geringverdiener einen Alg-II-Zuschuss. Wer ein Häuschen besitzt oder eine Lebensversicherung angespart hat, muss diese Vermögenswerte versilbern, bevor der Staat den Lohn aufstockt. "Für sie ist das Bofinger-Modell vorteilhafter als die gegenwärtige Regelung. Sie könnten ihr kleines Einkommen durch die negative Einkommenssteuer aufbessern", bilanziert Sabine Groner-Weber, bei ver.di für Grundsatzfragen zuständig. Für sie ist außerdem positiv, dass Minijobs abgeschafft werden und damit alle, die arbeiten, sozialversichert sind.

Völlig unakzeptabel aus Gewerkschaftssicht ist ein Mindestlohn von 4,50 Euro. "Bofingers und Walweis Konzept zielt auf mehr Beschäftigung im Niedriglohnsektor durch noch niedrigere Löhne ab", kritisiert der ver-di-Wirtschaftsexperte Michael Schlecht. "Durch die breite Subventionierung im Niedriglohnsektor entsteht ein Abwärtssog auch für die heute noch darüber liegenden Lohngruppen."

In den letzten zehn Jahren sind in Deutschland die Stundensätze vor allem im unteren Bereich deutlich gefallen. In Großbritannien gibt es seit 1999 einen Mindestlohn. Zugleich hat die Arbeitslosigkeit auch unter Geringverdienern abgenommen. Solche Erfahrungen ignoriert die große Koalition. Annette Jensen