Ausgabe 02/2023
Industrie ist nicht alles
Die Industrie leidet unter der Energiekrise. Der russische Angriffskrieg und die einhergehenden westlichen Sanktionen haben Gas, Öl und Kohle stark verteuert. Der Preis für Industriestrom ging steil hoch. Stahlwerke, Aluminiumhütten, Chemieanlagen und Gießereien ächzen unter den hohen Energiekosten. Im fossilen US-Kapitalismus bekommen die Unternehmen hingegen Öl, Gas, und Kohle fast geschenkt. Zwischen New York und Los Angeles kostet der Strom nur die Hälfte.
Doch damit nicht genug. Die Biden-Regierung schnürte unlängst ein rund 370 Milliarden Dollar schweres Investitions- und Subventionspaket. Washington greift der US-Industrie unter die Arme, um die Herausforderungen geopolitischer Konflikte, des Klimawandels und der Digitalisierung besser meistern zu können. In Berlin verbreiten die hohen Energiepreise und die industriepolitische US-Großoffensive Panik. Einige Industriekapitäne, Ökonomen und Politiker fürchten, dass BASF, Bayer, Thyssen, Krupp & Co schon bald aus Leverkusen, Ludwigshafen oder Duisburg abwandern. Die deutsche Industrie schwebt angeblich in akuter Lebensgefahr. Und deswegen soll die Ampel-Regierung jetzt den Rettungswagen holen. Der Industriestrom soll kräftig subventioniert, private Investitionen gefördert, Klimaschutzverträge geschlossen, Genehmigungsverfahren beschleunigt und Beschäftigte qualifiziert werden. Dafür darf kein Preis zu hoch sein. Schließlich geht es um die Zukunft unserer wichtigsten Wohlstandsquelle.
Doch Vorsicht! Klappern gehört zum Geschäft. Der Gesundheitszustand unserer Industrie ist besser als Konzernlenker und Ver-bandschefs diagnostizieren. Die Branche hat genug Aufträge und vielerorts sprudeln die Gewinne und Dividenden. Eine Insolvenzwelle ist weit und breit nicht in Sicht. Schließlich sind Energiekosten nur ein Standortfaktor neben Marktnähe, Infrastruk-tur, Fachkräften, Technologie und Forschung. Der Energieverbrauch macht im Schnitt lediglich 1,5 Prozent der Produktionskosten des verarbeitenden Gewerbes aus. Nur richtigen Energiefressern steht das Wasser bis zum Hals. Und um keine Missverständnisse aufkommen zu lassen: Unsere Industrie ist wirtschaftlich wichtig. In den nächsten Jahren müssen die industriellen Wertschöpfungsketten klimagerecht umgebaut werden, ohne dass die Unternehmen dabei in die Knie gehen. Zur Wahrheit gehört aber auch: Vier Fünftel der Wertschöpfung unserer Volkswirtschaft findet in Dienstleistungsbranchen statt. Dort sind drei von vier Beschäftigten beschäftigt. Hierzulande malochen mehr Menschen in Supermärkten, Krankenhäusern, Altenheimen oder Schulen als in Autofabriken und Stahlwerken. Daseinsvorsorge und Sozialstaat sind für die wirtschaftliche und soziale Entwicklung unseres Landes zentral. Die populäre Erzählung von der Industrie als einziger Wohlstandsquelle und dem Sozialstaat als Kostgänger ist ein ökonomisches Märchen. Beide dürfen nicht gegeneinander ausgespielt werden.
Die populäre Erzählung von der Industrie als einziger Wohlstandsquelle und dem Sozialstaat als Kostgänger ist ein ökonomisches Märchen.
Der sozial-ökologische Umbau unserer Industrie muss politisch gestaltet werden. Dafür brauchen wir Subventionen, Steueranreize, staatliche Aufträge und Infrastrukturinvestitionen. Diese Industriepolitik gibt es nicht zum Nulltarif. Allein die Subventionierung des Industriestroms würde jährlich 13 Milliarden Euro verschlingen. Gleichzeitig müssen der Investitionsstau und Personalmangel im Gesundheits- und Bildungswesen, beim ÖPNV und in der öffentlichen Verwaltung angegangen werden. In Kitas, Schulen und Krankenhäuser müssen insgesamt 85 Milliarden Euro investiert werden. Das gibt Christian Lindners Haushaltsplan nicht her. Folglich müssten Altenpfleger, Lehrerinnen und Erzieher den billigen Industriestrom mit schlechten Arbeitsbedingungen bezahlen.
Doch der Verteilungskonflikt um vermeintlich knappe Haushaltsmittel lässt sich jederzeit auflösen. Oder in den Worten des Ökonomen John Maynard Keynes: "Alles, was wir tun können, können wir uns auch leisten." Die notwendigen Investitionen für Industrie, Dienstleistungen, Daseinsvorsorge und Sozialstaat können auf Pump finanziert werden. Dafür muss die wirtschaftlich unsinnige Schuldenbremse umgangen werden. Dem Sondervermögen für die Bundeswehr könnten dann weitere Sondervermögen für Bildung, Gesundheit und öffentlichen Verkehr folgen. Höhere Personal- und Sachausgaben sollten hingegen über höhere Steuern auf große Einkommen und Vermögen finanziert werden. Geld ist genug da.