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Die Beschäftigten in der Kinder- und Jugendhilfe brechen unter Bergen von Akten zusammenStefan Boness/Ipon

„Das ganze System wird in sich zusammenbrechen.“ Es ist eine düstere Prognose für die Kinder- und Jugendhilfe, die Torsten Klinker gibt. Doch der Erzieher des AWO Kinderhaus Bergstraße in Seeheim-Jugenheim übertreibt nicht. In ­Hessen und im ganzen Land stehen Jugend­ämter und freie Träger in der Kinder- und Jugendhilfe vor dem gleichen Problem: Es fehlt an Personal. „Das hat sich über die Jahre verstärkt“, sagt Torsten Klinker. „Die älteren Kolleg*innen gehen in den Ruhestand und Nachfolgebewerbungen sind sehr rar gesät.“ Die Folge: Die, die noch da sind, sind überlastet, viele werden krank und fallen aus, und die Betreuung der Kinder und Jugendlichen leidet. „Wenn sich nicht bald etwas ändert, ist eine zielgerichtete und sinnvolle Arbeit mit den Kindern und Jugendlichen nicht mehr möglich.“

Hausbesuch gestrichen

Runa Pal aus dem Jugendamt der ­Kreisverwaltung Offenbach drückt es drastischer aus: „Dann sterben Kinder.“ Aufgrund des Personalmangels, des ­gestiegenen Drucks und wachsender Büro­kratisierung könne man nur noch das Allernötigste machen und sich auf Kinderschutzfälle fokussieren. „Hilfs­angebote und Beratung werden vernachlässigt“, berichtet die Sozialarbeiterin. „Aber bevor so ein Fall zum Kinderschutzfall wird, kann man ja was machen.“ Theoretisch. Wenn man genügend ­Personal und Zeit hat.

Runa Pal ist schon 30 Jahre lang Sozialarbeiterin, etwa 25 Jahre hat sie im Allgemeinen Sozialen Dienst (Jugendamt) gearbeitet. Eigentlich ein schöner und vielseitiger Beruf. Früher, sagt sie, konnte man in der Arbeit noch kreativ sein, hatte Möglichkeiten, Spielräume, konnte gemeinsam Hilfen für die Familien entwickeln. „Jetzt macht man nur noch das, was man muss, alles andere ist zu viel.“ Auf Überlastungsanzeigen, die Runa Pal auch als Gesamtpersonalrätin generell empfiehlt, werde oft unangemessen reagiert. „Dann werden Notfallpläne erstellt, die beispielsweise besagen, die Haus­besuche einzustellen. Aber so ein Hausbesuch ist ein wichtiges Mittel für die ­soziale Arbeit“, denn Zuhause könne man einiges sehen und mitbekommen wie die Atmosphäre ist. Und man könne mit den Leuten ganz anders sprechen als in einem Amtsgebäude.

Früher, sagt Runa Pal, seien die Sozialarbeiter*innen nach dem Studium gerne ins Jugendamt gegangen. Heute würden sich viele dagegen entscheiden. „Die Leute wenden sich von dem Beruf ab, weil er – auch wegen der Arbeitsbedingungen – keinen guten Ruf mehr hat. Wenn du ins Jugendamt gehst, verbrennst du, heißt es.“ Aber auch weil die Bezahlung noch immer nicht angemessen sei, ­„obwohl wir in den vergangenen Tarifrunden viel erreicht haben“.

Ein Teufelskreis

Und so gehen im Jugendamt Offenbach wie auch bundesweit immer mehr Kolleg*innen in Rente, ihre Stellen aber ­bleiben unbesetzt. Die, die noch da sind, müssen immer mehr Arbeit bewältigen. Immer mehr Fälle müssen immer weniger Leute bearbeiten. 28 Fälle pro Sozialarbeiter*in fordert ver.di seit vielen Jahren als gesetzliche Obergrenze. Momen- tan haben sie häufig die doppelte und dreifache Anzahl, sagt Runa Pal. „Und weil alle so viel zu tun haben, ist es nur schwer möglich neue Kolleg*innen – wenn dann mal welche kommen – gut einzuarbeiten.“ Die Neuen fühlten sich so schnell überlastet und würden wieder aufhören. „Das ist ein Teufelskreis.“

Auch Torsten Klinker kann ein Lied davon singen. Durch die Überlastung der Festangestellten leide auch die Anleitung der Praktikanten – Studierende der ­Sozialen Arbeit oder Menschen, die ein Vorpraktikum machen, um zu sehen, ob die Arbeit etwas für sie wäre. „Die flüchten wieder, weil sie hier so überfordert werden und geschockt sind.“

Das Kinder­haus Bergstraße, in dem Klinker seit 2011 als staatlich anerkannter Erzieher arbeitet, ist eine gemischte Einrichtung für reguläre Jugendhilfefälle und unbegleitete minderjährige Flüchtlinge. Aufgrund von Personalmangel werden oft Springer eingesetzt, meist Studierende mit wenig ­Erfahrung, vorwiegend für Nachtdienste. „Da fragt man sich schon, ob man die mit so viel Verantwortung allein lassen kann“, sagt der 57-jährige Erzieher, der auch Betriebsratsmitglied der AWO ­Hessen-Süd ist. Die Betreuung leide, aber ohne Hilfskräfte ginge es nicht mehr.

Dramatische Zustände

Im Kinderhaus sind zehn Erzieher*innen und Sozialpädagog*innen beschäftigt, nur drei davon arbeiten in Vollzeit. Auch das ist ein Effekt der anspruchsvollen, oft zehrenden Arbeit: Viele Beschäftigte in dem Bereich schaffen nur Teilzeit. „Das ist ein bewegender Job, da kann man sich nicht immer abgrenzen und nach Feierabend einfach abschalten. Man wäre auch falsch in dem Job, wenn es einem egal wäre, was aus den Kindern oder Jugendlichen wird.“

Trotz professioneller Distanz, sagt Runa Pal, ginge man eben mit Menschen um. „Es be­eindruckt einen, was manche Menschen erleben müssen und erlebt haben.“ Beide wünschen sich eine verkürzte Vollzeit bei vollem Lohnausgleich. Nicht mehr als 33 Stunden wären angemessen für den Job. Und würde ihn attraktiver für den Nachwuchs machen.

Ein weiteres Problem sind die fehlenden ­Plätze für Inobhutnahmen. Auch die Kinder­notdienste sind am Limit. Die freien Träger, die ambulante und stationäre Hilfen anbieten, wie AWO, Caritas und Diakonie, sind allesamt überlastet. Die Sozialarbeiter*innen der Jugendämter finden keine Unterbringung für die schutzbedürftigen Kinder. „Die Leute ­suchen wochenlang und bundesweit nach einer Inobhutnahmestelle für ein Kind, das in einer Notsituation ist, weil es missbraucht oder misshandelt worden ist“, berichtet Runa Pal.

Die 15 Plätze plus der eine Inobhutnahmeplatz für akute Notfälle seien auch in seinem Haus ständig ausgebucht, bestätigt Torsten Klinker die prekäre Lage. „Wir haben Anfragen aus ganz Deutschland.“ Früher sei das eher regional gewesen, aber jetzt bundesweit. „Alle suchen.“

„Wir bekommen ständig Notrufe aus Jugendämtern. Bundesweit ist es überall das Gleiche“, sagt Elke Alsago, Bundes­fachgruppenleiterin Erziehung, Bildung und Soziale Arbeit bei ver.di. Ihre Fachgruppe hat das Problem kürzlich am Beispiel Frankfurt durchgerechnet: Dort sind täglich drei Sozialarbeiter*innen ­damit beschäftigt, zu telefonieren, um Kinder unterzubringen. Ein enormer Stress, dazu der Fachkräftemangel, der sich in den letzten drei Jahren der Pandemie zugespitzt habe, die verbliebenen Beschäftigten seien völlig überlastet. „Die können alle nicht mehr. Und dann gehen sie. Es ist ganz dramatisch.“

Der Staat kann seinem Auftrag, dem sogenannten Wächteramt, nicht mehr nachkommen, sagt Elke Alsago. „Eigentlich ist das eine Kapitulation. Und es ist eine Gefahr für Leib und Leben der ­Kinder.“ Um den Kollaps des Systems zu verhindern, müssten sich die Arbeitsbedingungen deutlich verbessern. ver.di hat deshalb jetzt die Kampagne „Hilfe für die Jugendhilfe“ gestartet. Neben einer Ausbildungsoffensive stehen Fallobergrenzen, Entlastung von Dokumentationen und bürokratischen Aufgaben auf der Agenda.

Mehr erfahren zur Kampagne „Hilfe für die Jugendhilfe“