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Bunter und vielfältiger sind die Streiks auch durch ver.di gewordenFoto: Florian Boillot

[…] Mit der Gründung von ver.di im Jahr 2001 wurde ein neues Kapitel der bundesdeutschen Gewerkschaftsgeschichte aufgeschlagen, das auch eine Zäsur für das Streikgeschehen bedeuten sollte. Dieses ist in den nachfolgenden zwei Jahrzehnten durch einen mehrschichtigen Wandel gekennzeichnet. Ab Mitte der 2000er-Jahre wurde eine Verschiebung des Arbeitskampfgeschehens in den Dienstleistungsbereich immer deutlicher erkennbar – eine Entwicklung, die sich bereits Mitte der 1990er-Jahre angedeutet, aber noch nicht durchgesetzt hatte. Sie verband sich damit, dass Beschäftigtengruppen in den Streik traten, die in den Jahrzehnten zuvor nur sehr selten die Arbeit niedergelegt hatten. Stärker als in den vorausgegangenen beiden Jahrzehnten prägten nun auch streikende Frauen das öffentliche Bild des Arbeitskampfs.

Einleitung

Den Hintergrund für diese Entwicklung bildeten Veränderungen im System der industriellen Beziehungen, die mit einem Wandel der nationalen und internationalen Konkurrenzbedingungen verknüpft waren und sich in einer Verhärtung von Verteilungskämpfen ausdrückten. Beschäftigte waren seltener bereit, jedwede betriebliche Zumutung hinzunehmen oder kampflos zu akzeptieren, dass tarifliche Errungenschaften durch Unternehmen oder öffentliche Arbeitgeber infrage gestellt wurden. Umgekehrt wurde bei Unternehmen und Arbeitgeberverbänden die Kompromissbereitschaft geringer und die Konfrontationsbereitschaft größer. Ab Mitte der 2000er-Jahre traten neben den Auseinandersetzungen um Lohn und Gehalt auch Konflikte um Gesundheit und Arbeitsbelastung wieder stärker in den Vordergrund.

Die Grundprämisse des Buches ist, dass der Streik ein wenn auch nicht alltägliches, so doch normales und notwendiges Mittel der Artikulation und Durchsetzung von Interessen abhängig Beschäftigter gegenüber Unternehmen und Arbeitgeberverbänden ist. Sechs Wochen Urlaub, kürzere Wochenarbeitszeiten, die Lohnfortzahlung im Krankheitsfall für Arbeiter*innen und nicht zuletzt Löhne und Gehälter, die zum Leben reichen – die Liste der heute vielfach als selbstverständlich erachteten Errungenschaften, die mittels Streiks durchgesetzt wurden, ist lang. Dies gilt auch für die Entwicklung ab Mitte der 2000er-Jahre. Dass die Arbeitsbelastung von Erzieher*innen und Krankenhauspersonal zum Thema wurde, verdankt sich, ebenso wie die erhöhte Aufmerksamkeit für Niedriglöhne, wesentlich den für diese Ziele geführten Arbeitskämpfen. Kurz: Streiks sind gesellschaftlich prägende Ereignisse, auch wenn dies im Einzelfall nicht immer offensichtlich ist. Ohne sie sähen die Arbeitsbeziehungen anders aus, wären Tarifverhandlungen, so eine häufig zitierte Feststellung des Bundesarbeitsgerichts, nichts anderes als kollektives Betteln.

Damit Streiks wirken, müssen sie Betriebsabläufe stören. Dem Großteil der Bevölkerung wird dies zumeist erst dann bewusst, wenn alltägliche Dienstleistungen vorübergehend ausfallen. Dennoch stoßen Streiks auch unter der Bevölkerung vielfach auf großes Verständnis.

Die Bundesrepublik galt im internationalen Vergleich lange als ein eher streikarmes Land. Dies ist seit Mitte der 2000er-Jahre nur noch bedingt richtig. Seither verging mit Ausnahme der Lockdowns zu Beginn der Corona-Pandemie kaum eine Woche, ohne dass sich Beschäftigte und ihre Gewerkschaften irgendwo im Arbeitskampf befanden. […]

Streik ist nicht gleich Streik. Es ist ein Unterschied, ob Fahrer*innen eines städtischen Nahverkehrsbetriebs mit langjähriger Streikerfahrung morgens ihre Bahnen und Busse im Depot lassen, ob Arbeiter*innen eines großen Automobilwerks zum x-ten Mal in ihrem Berufsleben an einem Warnstreik teilnehmen oder ob Krankenpfleger*innen unter schwierigen Bedingungen die Arbeit einstellen, Kassierer*innen im Einzelhandel mitten im Betrieb ihre Kasse schließen oder eine relativ kleine Gruppe von Angestellten in der Systemgastronomie zum ersten Mal mitten am Tag den Grill herunterfährt und gemeinsam zur Streikversammlung zieht. Der Entschluss, die Arbeit niederzulegen, erfordert insbesondere dort, wo es wenig Streikerfahrungen gibt, nicht selten eine gehörige Portion Mut (oder auch Wut) und er bleibt zugleich der wichtigste Schritt in jedem Arbeitskampf. […]

Ausblick

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Der Blick auf die Entwicklung seit 2000 zeigt: So wie die sie umgebende Gesellschaft haben sich auch Arbeitskämpfe und Streiks verändert und weiterentwickelt. Das Streikgeschehen folgte der Umgestaltung des Dienstleistungssektors durch Privatisierung und Liberalisierung und der mit diesem Prozess verbundenen Ausdifferenzierung der Tariflandschaft. Noch bis in die 1990er-Jahre wurde, wenn von Arbeitskämpfen die Rede war, meist allein an die Auto- oder Stahlindustrie gedacht. In diese Wahrnehmung ist seit Mitte der 2000er-Jahre Bewegung gekommen. Zunächst richtete sich die Aufmerksamkeit auf einzelne Berufsgruppen in Luft- und Bahnverkehr oder auch die Mediziner*innen, die vor 2000 kaum durch Streiks in Erscheinung getreten waren. Zum anderen erhielten aber auch Bereiche der öffentlichen Daseinsvorsorge wie die Pflege und die Kindererziehung mit dem Wandel von Geschlechterrollen und Kernfamilie sowie der zunehmenden Flexibilisierung von Arbeitsverhältnissen für viele Menschen eine größere Bedeutung. Zugleich waren es die Beschäftigten dieser Bereiche selbst, die ihre, sich im Zuge neoliberaler Deregulierung zum Teil drastisch verschlechterten Arbeitsbedingungen nicht länger hinnehmen wollten und ihre Probleme über Streiks in die Öffentlichkeit trugen. Sehr häufig waren es Frauen, die begannen, sich der gesellschaftlichen Relevanz ihrer Arbeit und ihrer eigenen Bedeutung bewusst zu werden. Statt warmer Worte forderten sie materielle Anerkennung und bessere Arbeitsbedingungen. Im Ergebnis all dessen ist das Streikgeschehen vielfältiger und im wahrsten Sinne des Wortes auch bunter geworden. […]

Streiks sind immer auch ein Bruch mit dem Arbeitsalltag und enthalten häufig Elemente von Selbstorganisation, Widersetzlichkeit und zivilem Ungehorsam. Sie bieten die Chance, dass sich Beschäftigte neu erfahren und sie können positive Erlebnisse vermitteln. Wer mit Streikenden spricht, bemerkt immer wieder, dass häufig nicht nur für die deklarierten Streikziele gestreikt wird, sondern dass die demonstrative Arbeitsverweigerung Firma wie Vorgesetzten auch zeigen soll, dass die Beschäftigten nicht alles mit sich machen lassen. Es ist dieses subversive Potenzial, dass Unternehmen manchmal mehr fürchten als den Streik selbst. Es sollte gleichwohl nicht überschätzt werden. […⁠]

Arbeitskämpfe finden auf sehr unterschiedlichen Ebenen statt. Sie reichen vom betrieblichen Protest in der Kantine bis zum bundesweiten Flächenstreik. Sie umfassen informelle Auseinandersetzungen um betriebliche Arbeitsbedingungen mit den unmittelbaren Vorgesetzten ebenso wie Kämpfe um den Erhalt von Standorten oder von Warnstreiks begleitete Lohn- und Gehaltsrunden.

Es gibt kaum eine Branche, in der seit dem Jahr 2000 nicht gestreikt wurde. Obgleich Ausnahmesituationen im Arbeitsalltag, sind Streiks fester Bestandteil der bundesdeutschen Arbeitsbeziehungen. Streiks sind umkämpft und manchmal auch umstritten. Das gehört dazu. Sie bleiben aber fester Bestandteil der kollektiven Interessendurchsetzung abhängig Beschäftigter. Ihre Aktualität auch und gerade in der "postindustriellen Gesellschaft" beweist sich stets aufs Neue in der Praxis.

Heiner Dribbusch: Streik. Arbeitskämpfe und Streikende in Deutschland seit 2000 – Daten, Ereignisse und Analysen, VSA: Verlag, Hamburg, 376 Seiten, 29,80 €, ISBN 978-3964881212