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Kürzungen im Gesundheitswesen, Steueramnestien, Krümel für die Armen – Italiens Präsidentin kommt schlecht weg bei den GewerkschaftenFoto: Marco Di Gianvito/Zuma/ddp

Der Rauch der Bengalos taucht die Piazza in roten Nebel, während Tausende Menschen in leuchtend roten T-Shirts Wasserflaschen, Kappen und Infomaterial verteilen. Die Confederazione Generale Italiana del Lavoro (CGIL), mit 5,7 Millionen Mitgliedern die stärkste der drei großen italienischen Gewerkschaften, hat mobilisiert und zum Streik aufge- rufen. Am Ende des Tages werden es 50.000 Menschen und zahlreiche Organisationen wie Fridays for Future sein, die ihrem Aufruf gefolgt und etwa 2,5 Kilometer gemeinsam von der Piazza della Repubblica bis zur Piazza San Giovanni in Rom gelaufen sind. Sie wollen ihren Forderungen nach einem gerechteren Italien Gehör verschaffen. Denn nach der Regierungsübernahme durch die postfaschistische Fratelli d'Italia (Fdl) sind für italienische Arbeiter*innen und Leistungsbezieher*innen schwere Zeiten angebrochen.

In Italien gibt es keinen Mindestlohn, die Gehälter sind niedrig, die Arbeitsverträge sind meist befristet, die Jugendarbeitslosigkeit und die Lebenshaltungskosten hoch. Insgesamt 13 Prozent der Italienerinnen und Italiener gelten als so arm, dass sie nicht einmal genug Geld für Grundbedürfnisse haben. Der Protest an diesem 7. Oktober wird auch vor dem Hintergrund eines beispiellosen Sozialabbaus unter der rechten Regierung Melonis ausgerufen. Dieser erreichte seinen Höhepunkt Ende Juli dieses Jahres. Per SMS wurden rund 169.000 Haushalte von Leistungsbezieher*innen über das Ende ihrer Unterstützung ab dem 1. August informiert.

Protagonisten des Wandels

CGIL-Generalsekretär Maurizio Landini ruft die Regierung dazu auf, den zehntausenden Protestierenden Gehör zu schenken: "Wir ersuchen darum, dass diejenigen, die das Land am Laufen halten, die arbeitenden Menschen und die, die heute im Ruhestand sind, angehört werden und dass sie die Protagonisten dieses Wandels sind und nicht diejenigen, die den Preis dafür zahlen müssen."

"Wir sehen doch an der hohen Jugendkriminalität, wie wichtig Bildung und Zugang zu Bildung ist."

Zu denjenigen Menschen, die das Land am Laufen halten, gehört auch Silvia, eine 40-jährige Lehrerin aus Palermo. Sie sagt: "Das Leben hat sich definitiv in verschiedenen Bereichen spürbar verschlechtert, insbesondere im Bildungssektor. Hier gab es viele Kürzungen auf Kosten der Kinder und auf Kosten der Männer und Frauen, die in diesem Bereich arbeiten. Nur jedes zehnte Kind hat auf Sizilien Zugang zu einer Kita. Wir sehen doch an der hohen Jugendkriminalität, wie wichtig Bildung und Zugang zu Bildung ist. Investitionen in Schule und Ausbildung sind, was wir brauchen, und keine Kürzungen!"

Direkt betroffen von den Kürzungen ist auch Mario, ein 58-jähriger Koch aus Rom. "Die öffentliche Gesundheitsfürsorge zum Beispiel ist stark betroffen", erklärt er am Rande des Protestzugs. "Ich habe eine ältere Mutter mit Alzheimer, um die ich mich kümmern muss, aber ich konnte keine Pflegeeinrichtung finden. Ich musste für eine private Einrichtung zahlen, die drei- bis fünfhundert Euro pro Monat kostet."

Tatsächlich sieht das neue Haushaltsgesetz weitere Kürzungen, insbesondere im Gesundheits- und Bildungssektor vor. Dadurch würden weitere Stellen abgebaut und mehr Schulen und Krankenhäuser geschlossen werden. Kritiker*innen befürchten gar eine Privatisierung des gesamten Bildungs- und Gesundheitssektors.

Vor dem Hintergrund der Verabschiedung des Haushaltsgesetzes, will Landini von der CGIL mit den beiden anderen großen Gewerkschaften, CISL (Confederazione Italiana Sindacati Lavoratori) und UIL (Unione Italiena del Lavoro), gemeinsam mobilisieren, um eine Umkehr der fehlerhaften Wirtschafts- und Sozialpolitik zu bewirken, erklärt er auf der riesigen, eigens für den Protest aufgebauten Bühne auf der Piazza San Giovanni.

Trend zur Liberalisierung

Salvatore Marra, Leiter des Bereichs Europapolitik in der CGIL, beobachtet seit dem Regierungswechsel zudem eine Verschlechterung des sozialen Dialogs im Land. "Bedauerlicherweise hat die Regierung die Sozialpartner nicht eingeladen, um über die Umsetzung von Maßnahmen zu diskutieren. Zudem wurden Maßnahmen eingeführt, wie die Abschaffung des italienischen Grundeinkommens (Reddito di Cittadinanza) und Arbeitsmarktreformen, die den Trend zur Liberalisierung des Arbeitsmarktes fortsetzen, während die Lohnsteigerungen gen null gehen. Im Öffentlichen Dienst wurden die Mittel für Gehaltserhöhungen gekürzt, und in der Privatwirtschaft kämpfen wir um die Erneuerung der nationalen Tarifverträge, was jedoch aufgrund der fehlenden Bereitschaft der Gegenseite schwierig ist."

"Die Regierung informiert einseitig über ihre Pläne, sei es in Bezug auf Steuerpolitik oder den Haushalt, ohne den Gewerkschaften die Möglichkeit zu geben, ihre Positionen darzulegen oder in einen Dialog einzutreten", bestätigt Dr. Michael Braun von der Friedrich-Ebert-Stiftung in Rom. Er gibt jährlich einen Gewerkschaftsatlas für Italien heraus und beobachtet, dass die Regierung, kleine Gewerkschaften, die wenig repräsentativ sind, aufzuwerten versucht. "Das sind Gewerkschaftsbünde, die oft eine rechtsgerichtete Ausrichtung haben und zu den Gesprächen eingeladen werden. Dies bedeutet, dass nicht nur die großen Gewerkschaftsbünde am Tisch sitzen, sondern auch kleine Organisationen, die praktisch niemanden vertreten. Dies stellt eine Art Affront gegenüber den etablierten großen Gewerkschaftsbünden dar."

Der Forderungskatalog der Gewerkschaft CGIL spricht für sich. In einem Manifest fordert sie die Einführung eines Mindestlohns, rechtliche Verankerung von Tarifverträgen auf staatlicher Ebene, Bekämpfung von Steuerhinterziehung, Förderung von Geschlechtergerechtigkeit, stabile und unbefristete Beschäftigungsverhältnisse, Investitionen in Gesundheit und Arbeitssicherheit und die Bekämpfung von Arbeitslosigkeit.

Wehret den Anfängen

Doch viele Menschen auf der Demonstration fürchten sich nicht nur vor einer finanziell ungewissen und prekären Zukunft. Koch Mario sieht noch eine ganz andere Gefahr für Land und Leute: "Auf indirekte, aber fortschrittliche Weise versucht die Regierung zu spalten. In ihr gibt es einige Personen, die sich ein faschistisches Regime wünschen. Viele Menschen sind sich dessen nicht bewusst, aber wir sehen bereits die ersten Zeichen. Erst kürzlich wurde wieder ein Journalist entlassen, der regierungsfeindliche Ansichten geäußert hatte. Nach und nach werden Kritiker und Kritikerinnen mundtot gemacht. Das ist erst der Anfang."

Dies kann durchaus als Anspielung auf kürzliche Entlassungen und eine Kündigungswelle des öffentlich-rechtlichen Fernsehens RAI verstanden werden. Die TV-Gruppe umfasst ein Dutzend Sender. Einige der kritischsten Sendungen wurden eingestellt, zahlreiche prominente Journalist*innen und Satiriker entlassen oder dazu gebracht, zu anderen Sendern zu wechseln.

Nach dem Vorbild des Ex-Premiers Silvio Berlusconi, besetzt auch Giorgia Melonis Rechtsregierung die Chefposten im öffentlichen-rechtlichen Rundfunk und Fernsehen konsequent mit eigenen Leuten. Doch während Berlusconi vergleichsweise gelassen gegenüber unabhängigen Journalistinnen und Journalisten blieb, verläuft die Kommunikation seitens Meloni deutlich restriktiver: eigene kurze Videos statt Pressekonferenzen, kaum Interviews mit Journalist*innen. Meloni will einen Kulturwandel und versucht ganz offen das öffentliche Fernsehen und andere Medien und Kultureinrichtungen zu kontrollieren. Für Menschen wie Mario heißt das: Wehret den Anfängen.