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Showdown mit EisbärenFoto: Verena Brüning
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Der Countdown wird gleich von Daniel Wetzel gestartetFoto: Verena Brüning
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"Ein täglicher Überlebenskampf" – die Performance-Künstlerin Laleshka Salas Salazar am AkrobatikseilFoto: Verena Brüning
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Hedi Tounsi und Kollegen vorm Amazon-Tower in BerlinFoto: Verena Brüning
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Weitere Protagonisten auf der Bühne: Gisela Winkler ...Foto: Verena Brüning
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Monsur BabalolaFoto: Verena Brüning
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Basile Herrmann PhilipeFoto: Verena Brüning

Zu Beginn der Aufführung startet Daniel Wetzel eine Digitaluhr. In roten, gut sichtbaren Ziffern zählt sie die 90 Minuten, die das Stück dauern wird, rückwärts, Sekunde für Sekunde. In jeder dieser Sekunden macht Amazon einen Gewinn von rund 4.000 US-Dollar, aktuell knapp 3.700 Euro. Ein Ticker, der präsent, aber dennoch im Hintergrund läuft, während Wetzel all das erzählt und erzählen lässt, was er in den vergangenen Jahren über Amazon recherchiert hat.

Mit Beginn der Corona-Pandemie fiel ihm die steigende Zahl der Päckchen auf, die Tag für Tag für seine neue Nachbarin bei ihm abgegeben wurden. Nicht nur, dass sie bei der Amazon-Tochter AWS, Amazon Web Services, arbeitete, sie bestellte auch selbst eifrig. Manchmal waren es vier Sendungen an einem Tag. Die Kartons mit dem vermeintlich lächelnden Pfeil als Firmenlogo des Online-Händlers begannen sich in Wetzels Wohnung zu stapeln. Und weckten schließlich sein berufliches Interesse.

Wetzel hat das "Rimini Protokoll" mitgegründet, ein Theater-Projekt, das mit verschiedenen Stilmitteln und Kunstformen ungewöhnliche Blicke auf unseren Alltag ermöglicht, egal ob bei der Hauptversammlung eines Automobil-Konzerns oder als begehbares Stasi-Hörspiel. Und jetzt eben im Theaterstück "La danse d'Amazon", dem "Amazon-Tanz" über den weltweit aktiven Online-Händler, der seit seiner Gründung im Jahr 1994 – damals als Online-Buchhändler – den Konsum, das Einkaufsverhalten und Geschäftsbeziehungen weltweit verändert hat. Der seinen Gründer Jeff Bezos zu einem der reichsten Männer der Welt gemacht hat. Der seinen Beschäftigten in Deutschland immer noch einen Tarifvertrag verweigert.

Doch wie hängt das alles zusammen? Was passiert von der Bestellung bis zur Lieferung? Auf der Suche nach einem Ort, an dem das entstehende Stück gezeigt werden soll, stieß Wetzel auf ein rot-gelbes Zelt des Zirkus' Cabuwazi. Hier im Schatten der Plattenbauten im Berliner Nordosten im Bezirk Marzahn-Hellersdorf üben Kinder und Jugendliche Artistik. Ein Ort, der Wetzel sofort einnahm. "Leistung und Präzision", das zeichnet für ihn Artistik aus.

So bekommen auch fünf Jugendliche aus dem Zirkus einen Auftritt in seinem Stück. Mit Springseilen zeigen sie, wie hinter dem vermeintlich Spielerischen Leistung und Präzision stehen, damit das Quintett zu einer tanzenden Einheit wird. Leistung und Präzision, wie sie auch die Beschäftigten bei Amazon bei ihrer täglichen Arbeit brauchen, damit die Waren schnell, pünktlich und korrekt geliefert werden. Sie picken und packen, suchen die Waren in den großen Verteilzentren zusammen oder packen sie ein, ein Algorithmus gibt ihnen den Takt vor. Doch die Arbeit ist schwer, belastet körperlich.

Tanzend picken und packen

Monsur Babalola, Amazon-Beschäftigter und jetzt Schauspieler, spricht auf der Bühne lächelnd von Meditation: Er fokussiere sich strikt auf die Abläufe, acht Stunden am Tag, egal ob zwischen den Regalen oder im Kühlraum, wo ihm bei minus 23 Grad spätestens nach zehn Minuten die Hände einfrieren. Er erzählt in seiner Arbeitskleidung mit blauer Warnweste, wie er Waren für Amazon Fresh pickt und packt. Frische Lebensmittel, die zeitnah ausgeliefert werden. Das erfordert ein hohes Maß an Konzentration sagt er. Vor und nach dem Arbeitstag brauche er zudem über eine Stunde Anfahrt in den Nordwesten Berlins zum Borsighafen.

"Ich gehe für Sie einkaufen", erklärt er dem Publikum. Dabei wird er dirigiert von einem Scanner. Der misst auch die Erfüllung der Aufgaben, in Prozent, individuell für jeden. Doch 100 Prozent habe er noch nie geschafft, ebenso wenig wie seine Kol-leg*innen. Seit fünf Jahren ist er schon dabei. "Have fun, make history", hab' Spaß, schreib' Geschichte, ist einer der Slogans, mit denen Amazon seine Beschäftigten zu motivieren versucht.

Auf den Paketen auf der Bühne werden drei Kolleg*innen bei der Arbeit gleichzeitig eingespielt, Filme, die Wetzel im Internet entdeckt hat. Auch sie picken und packen, doch ihr anstrengendes Tun wirkt harmonisch, fast wie ein Tanz.

Die Bilder erinnern an den Tanz der Tische, ein Symbol der Marx'schen Ideologie-Kritik. 1867 ist der erste Band seines Kapitals erschienen, zu einer Zeit, als ein Mensch gerade einmal durchschnittlich 300 Dinge sein Eigen nennen konnte. "Aber sobald er (der Tisch, Anmerk. d. Red.) als Ware auftritt, verwandelt er sich in ein sinnlich übersinnliches Ding. Er steht nicht nur mit seinen Füßen auf dem Boden, sondern er stellt sich allen andren Waren gegenüber auf den Kopf und entwickelt aus seinem Holzkopf Grillen, viel wunderlicher, als wenn er aus freien Stücken zu tanzen begänne", heißt es im "Kapital" von Marx über den Tisch.

Ein fast schon prophetischer Blick in die heutige Zeit, in der jeder Mensch durchschnittlich 10.000 Dinge besitzt. Diese Gier nach mehr befördert Amazon immer weiter. Relentless, gnadenlos, wollte Bezos seinen Handel erst nennen, entschied sich auf den Rat eines Investors aber anders. Amazon, wasserreich und verzweigt wie der Amazonas. Ein grüner Dschungel. "Doch es ist das Gegenteil, hier gibt es Insekten, Tiere, die töten können. Ein täglicher Überlebenskampf", sagt die peruanische Performance-Künstlerin Laleshka Salas Salazar zu Beginn des Theaterstücks. Und während Babalola spricht, turnt sie an einem Seil, das in der Manege hängt. Das dicke grüne Tau erinnert an eine Liane.

Gnadenlos allerdings hat Bezos die Handelswelt umgekrempelt. Was 1994 mit Büchern begann, ist heute ein Laden für alles. Ein aufblasbares Kuhkostüm, ein Panzer als Wasserspielzeug, ein Geschirr für den Hamster, diese und weitere Absurditäten aus dem aktuellen Angebot flimmern über die Bildschirme auf der Bühne. Gnadenlos ist auch der Umgang mit denen, die ihre Produkte auf der Amazon-Plattform verkaufen wollen. Sie können Werbung schalten, damit ihre Produkte oben auf der Website landen. Zahlen sie nicht den vorgegebenen Preis, werden diese nicht gezeigt.

Die Rolle des Portemonnaies

Nur ein Platz weit oben garantiert Klicks, Verkauf, Umsatz, sagt Sebastian Herz, Mitbegründer von "Zignify Global Product Sourcing". Sein Unternehmen vermittelt Firmen in aller Welt, die Produkte günstig herstellen, die unter anderem auf Amazon verkauft werden können, etwa in China. Am Beispiel eines Portemonnaies rechnet Herz im Theaterstück vor, dass er die Hälfte des Umsatzes schon in Werbung investieren muss. Und dabei verdient Amazon ebenfalls mit.

Wer sein Produkt weltweit verkaufen will, ist nicht vor sprachlichen Fehlern gefeit. Jana Krekić, Vorstandschefin von YLT Translations in Serbien, hilft mit ihren 80 Mitarbeiter*innen, in allen Sprachen genau die Wörter zu finden, die aus einem Produkt einen Verkaufsschlager machen. Wer etwa "braces" bei Amazon finden möchte, bekommt in England Hosenträger gezeigt. In Amerika steht das Wort hingegen für Zahnspangen.

"Behaviorismus", erklärt Monsur Babalola dem Publikum im Zirkuszelt. Auf jeden Reiz erfolge eine Reaktion. Das Produkt. Der Klick. Der Kauf. Der Algorithmus hat sich gemerkt, was gesucht wird, macht Vorschläge, damit die Kund*innen am Computer immer wieder neue Kaufanreize bekommen. Babalola hat Psychologie studiert, in seinem Heimatland Nigeria, hat zehn Jahre lang als Lehrer gearbeitet. Diese Qualifikation zählt in Deutschland nicht. Hier packt er Lebensmittel. Viele seiner Kolleg*innen sind Geflüchtete zwischen Duldung und Abschiebung. In kurzen Einspielfilmen erzählen sie von ihren Berufen.

Hedi Tounsi war Polizist, als er noch in Tunesien gelebt hat. Jetzt arbeitet er im Amazon-Logistikzentrum im niedersächsischen Winsen an der Luhe, südöstlich von Hamburg. Er ist Mitglied des Betriebsrats und ver.di-Vertrauensmann. Er ist in ganz Niedersachsen und Bremen mit von der Partie, wenn es darum geht, dass auch an anderen Amazon-Standorten Betriebsräte gewählt werden. Gegenseitig besuchen sich die Interessenvertreter*innen, helfen an noch unorganisierten Standorten, Flugblätter zu verteilen. Sie zeigen, dass es sich lohnt, sich zu organisieren.

Der Kampf der Beschäftigten

Auch wenn Amazon seit Jahren einen Tarifvertrag beharrlich verweigert, hat der Druck der Beschäftigten schon einiges erreicht. Eine bessere Bezahlung etwa. Oder Verbesserungen bei den Arbeitsbedingungen. Die Vorgesetzten merken, dass sie mit einer lückenlosen Überwachung der Beschäftigten über deren Handscanner nicht alles machen dürfen, was technisch möglich wäre.

"Häufig ist vor Ort die Angst der Kolleg*innen vor diesem Einsatz zu spüren, besonders wenn sie noch befristet eingestellt sind."
Nonni Morisse, ver.di-Gewerkschaftssekretär

"Aber Amazon kann mehr", sagt Tounsi, als er Anfang Oktober, gut acht Wochen vor der Theaterpremiere, in Berlin an einem Bildungsurlaub für Amazon-Beschäftigte teilnimmt. In den insgesamt drei Tagen vernetzen sich Beschäftigte aus Berlin und Brandenburg mit Kolleg*innen aus Bremen und Niedersachsen. "Ohne Gewerkschaft hätten wir nicht das, was wir haben", sind sie sich sicher. Aber sie wollen mehr haben, mehr durchsetzen. "Häufig ist vor Ort die Angst der Kolleg*innen vor diesem Einsatz zu spüren, besonders wenn sie noch befristet eingestellt sind", sagt Nonni Morisse. Und befristet beginnen bei Amazon fast alle Arbeitsverhältnisse erst einmal. Als ver.di-Gewerkschaftssekretär ist Morisse für die Amazon-Standorte in Niedersachsen und Bremen zuständig.

In der Mittagspause statten sie gemeinsam dem Amazon-Tower in Berlin einen Besuch ab. Noch ist der Turm im Bau. Tounsi nimmt sofort das Mikrofon in die Hand. Mitreißen kann der Ex-Polizist im weißen Basketballshirt seine Kolleg*innen. "Auch wenn Jeff Bezos das nicht mag, wir wollen den Tarifvertrag", skandieren sie, oder "Ohne uns keine Pakete."

Auf dem Weg zum Tower mit Reggae und HipHop-Musik beschimpft sie ein Handwerker, weil der mit seinem schweren Werkzeugkoffer in der Hand warten muss, bis die Demo vorbeigezogen ist. Ein Mitarbeiter der Berliner Stadtreinigung mit seinem Kehrfahrzeug hupt hingegen solidarisch. Schülerinnen lauschen aufmerksam der kleinen Kundgebung vor dem Tower und stellen fest, dass sie das Thema gerade im Unterricht besprechen. Eine Betriebsrätin von H&M, auf dem Weg zu einer Filiale im nahegelegenen Einkaufszentrum, übernimmt spontan das Mikro, um den Amazon-Kolleg*innen und Passant*innen zu erklären, dass alle Handelsbeschäftigten in einer ähnlichen Situation sind und zusammenhalten müssen.

Die Demo, der anhaltende Kampf der Beschäftigten um einen Tarifvertrag und bessere Arbeitsbedingungen sind auch Teil des Theaterstücks. Wetzel war es wichtig, dass die Beschäftigten und ihre Probleme breiten Raum einnehmen. Er hat Kontakt zu ver.di aufgenommen, um mit ihnen ins Gespräch zu kommen. Aber auch bei der Auswahl der Artist*innen im Stück hat er Wert darauf gelegt, dass sie vorher für eine Zeit lang bei Amazon arbeiten.

Die Frau an der Liane

Laleshka Salas Salazar, die Frau an der Liane, hat bei Amazon Turks gearbeitet, einer Plattform, bei der man sich mit Tausenden anderen um winzige Teil-Aufträge bewerben kann, die online erledigt werden. Sie hat Captchas getestet, die kleinen Bilderrätsel, mit denen man bei Bestellungen beweisen soll, dass man Mensch ist und keine Maschine. 5 bis 10 Cents bekam sie per Klick, doch wenn ein Auftrag mit 32 Sekunden angesetzt war, hat er sie oft das Dreifache an Zeit gekostet. So sank ihr Stundenlohn weiter, teilweise hatte sie nur 3,60 Euro am Ende einer Woche. Performance-Künstler Basile Herrmann Philipe hat in Marseille bei Amazon Waren gepickt und gepackt, er erzählt von der langen Anreise und den Bedingungen dort.

Getroffen und später mit ins Theaterstück aufgenommen hat Daniel Wetzel in Marzahn auch Gisela und Dietmar Winkler, die ein Zirkusarchiv betreiben. Dort ist auch der Untergang des DDR-Staatszirkus dokumentiert, eine erste Begegnung mit dem Raubtier-Kapitalismus Anfang der 1990er, etwa zu der Zeit, als Jeff Bezos bei einer Autofahrt quer durch die USA das Konzept für Amazon entworfen hat. In einem Sessel aus Büchern erzählt Gisela Winkler jetzt auf der Bühne im Cabuwazi-Zelt von den Eisbären, einer Dressur des Staatszirkus', die weltweit für Aufsehen gesorgt hat.

In Japan habe es damals Pläne gegeben, ein Zirkusschiff zu bauen, mit dem die Eisbären rund um den Inselstaat fahren sollten, um zum staunenden Publikum zu kommen. So wie auch Amazon die Waren zu den Kund*innen bringen lässt, die keine Geschäfte mehr betreten müssen. In Sachen Überwachung sieht Wetzel Parallelen zwischen Amazon und der DDR. Der Online-Händler hat nicht nur die Beschäftigten im dauerhaften Blick, auch die Kund*innen sind gläsern.

Außerdem macht Amazon mittlerweile 70 Prozent des Umsatzes mit Speicherdiensten, hat eine große Menge Daten auf seinen Servern, nicht nur der Kund*innen, sondern auch von Unternehmen aus der ganzen Welt, die sich dort Speicherplatz mieten. Doch das Bild vom Kampf zwischen Mensch und Maschine greift Wetzel zu kurz. Es sind immer Menschen, die Algorithmen programmieren, betont er.

Eisbären im Walzertakt

Zum Schluss des Theaterstücks wiegen sich fünf Eisbären im Walzertakt auf der Bühne. Daniel Wetzel zeigt auf die Uhr. Die 90 Minuten sind sekundengenau runtergezählt, Amazon hat in dieser Zeit 25 Millionen US-Dollar verdient. Würde man allein die Summe, die der Versandhändler während der Corona-Pandemie mehr verdient hat, auf alle Beschäftigten verteilen, wären das für jeden und jede von ihnen 60.000 Dollar, für die meisten deutlich mehr als ein Jahresgehalt.

"Der Typ da macht ein Stück, das ein kritisches Licht auf Amazon werfen soll. Aber er bestellt jeden Schrott."
Zoï, die Tochter

Kurz vor Schluss betritt Wetzels Tochter Zoï die Bühne. "Der Typ da macht ein Stück, das ein kritisches Licht auf Amazon werfen soll. Aber er bestellt jeden Schrott", sagt sie und weist auf ihren Vater, der mittlerweile zu seinem grauen Drillich einen Cowboyhut mit Beleuchtung trägt – bestellt bei Amazon. Am Ende siegt auf dem heimischen Sofa doch oft noch die Bequemlichkeit, trotz des Wissens um die Arbeitsbedingungen und die Folgen des Online-Handels, der immer mehr Händler*innen vor Ort in die Knie zwingt. Nur Jeff Bezos hat das reich gemacht.

Übrigens: Wetzels Nachbarin hat mittlerweile ihren Job verloren. Ein Algorithmus hat festgestellt, dass ihre Arbeit nicht mehr gebraucht wird. Alles hängt mit allem zusammen.