Die obersten Juristen der Republik haben ein politisches Erdbeben ausgelöst. Die Karlsruher Richterinnen und Richter entzogen mit ihrem Verfassungsspruch der Ampel-Regierung die Geschäftsgrundlage. Seitdem kämpft Berlin mit einer schweren Haushaltskrise. Zur Erinnerung: Die selbsternannte Fortschritts-koalition wollte in die Zukunft investieren, die Schuldenbremse einhalten und keine Steuern erhöhen. Dafür griffen Scholz, Habeck und Lindner tief in die Trickkiste. Die Ampel verschob 60 Milliarden Euro schwere Kreditermäch-tigungen, die ursprünglich für die Pandemiebekämpfung vorgesehen waren, in einen Klimafonds (KTF). Dagegen klagten Abgeordnete von CDU und CSU. Jetzt stoppte Karlsruhe diese kreative Haushaltspraxis. Anschließend sperrte der oberste Kassenwart, Bundesfinanzminister Christian Lindner, FDP, sofort den Haushalt und setzte die Schuldenbremse für 2023 außer Kraft. Lindner stellt jetzt alles auf den Prüfstand: Die Haushaltplanung ebenso wie sämtliche Sondervermögen. Der Ampel fehlen plötzlich Milliarden für Gebäudesanierung, Wasserstoff, Elektromobilität, Bahn, Chipfabriken, kommunale Wärmeplanung und Krankenhäuser. Der sozial-ökologische Umbau steht auf der Kippe.

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Dierk Hirschel leitet den Bereich Wirtschaftspolitik bei ver.diKay Herschelmann

Die Koalitionäre streiten über den Weg aus der Haushaltskrise. Die FDP will krampfhaft an der Schuldenbremse festhalten. Für Zukunftsinvestitionen sollen Rentnerinnen, Kinder und Bedürftige den Gürtel enger schnallen. Sozialdemokraten und Grüne wollen die Wirtschaft grün anstreichen, ohne den Sozialstaat zu rupfen. Dafür soll die Schuldenbremse ausgesetzt und umgebaut werden. Da ist guter Rat teuer. Die Ampel darf jetzt auf keinen Fall den Rotstift anlegen. Die deutsche Wirtschaft läuft nicht rund. Sobald die staatliche Nachfrage schrumpft, verschärft sich der Abschwung. Die Wurzel allen Übels ist die Schuldenbremse. Der damalige Finanzminister Peer Steinbrück, SPD, ließ die strengen Fiskalregeln 2009 in die Verfassung meißeln. Seitdem dürfen Bund und Länder kaum mehr Schulden machen. Die neoliberalen Erfinder der Schuldenbremse wollten den Sozialstaat auf Zwangsdiät setzen und demokratische Politik entmündigen. Politikerinnen wurde unterstellt, sie könnten nicht mit Geld umgehen. Deshalb sollten sie durch Schuldenregeln gefesselt werden. Die 14-jährige Bilanz der Schuldenregeln fällt katastrophal aus: Die Schuldenbremse entpuppte sich als Investitions- und Zukunftsbremse.

"Wir brauchen endlich einen ökonomisch vernünftigen Umgang mit Staatsschulden. Kredite sind kein Teufelszeug. Entscheidend ist immer, wofür sie verwendet werden."

Unsere Volkswirtschaft fährt auf Verschleiß. Die staatlichen Nettoinvestitionen sind rückläufig. Der kommunale Investitionsstau beläuft sich inzwischen auf über 160 Milliarden Euro. In den Schulen und Kitas bröckelt der Putz, der Strom kommt nicht von Nord nach Süd, die Straßen sind voller Löcher und das Internet lahmt. Inzwischen kritisieren auch wirtschaftsliberale Ökonomen, konservative Politiker und Arbeitgeber die investitionsfeindliche Wirkung der Fiskalregeln. Der Verfall des öffentlichen Kapitalstocks verschlechtert die Bildungs-, Entwicklungs- und Lebenschancen unserer Kinder und Enkel. Selbst die Hoffnung einiger Genossen und Umweltfreunde, dass die Schuldenbremse Steuergeschenke verhindere und so die Staatskasse schütze, löste sich in Luft auf. Wir brauchen endlich einen ökonomisch vernünftigen Umgang mit Staatsschulden. Kredite sind kein Teufelszeug. Entscheidend ist immer, wofür sie verwendet werden. Öffentliche Investitionen auf Pump machen unsere Wirtschaft und Gesellschaft klimafreundlicher und modernisieren Daseinsvorsorge und Sozialstaat. Jeder sinnvoll investierte Euro schafft zusätzlichen Wohlstand.

Die Scholz-Regierung hat jetzt mehrere Möglichkeiten, die Haushaltskrise zu überwinden. Die Ampel kann die Schuldenregeln nächstes Jahr aussetzen, wenn sie die Notlage erklärt. Besser wäre eine grundlegende Reform der Schuldenbremse. Bund und Länder sollten Kredite in Höhe ihrer Nettoinvestitionen aufnehmen können (Goldene Regel). Zudem könnte die Regierung gemeinsam mit der Opposition ein Klimasondervermögen – wie beim Sondervermögen Bundeswehr – in die Verfassung schreiben. Noch besser wäre eine Streichung der ökonomisch unsinnigen und unsozialen Fiskalregeln aus dem Grundgesetz. Das scheitert aber am Widerstand konservativ-liberaler Hardliner. Darüber hinaus könnte eine umverteilende Steuerpolitik, die den privaten Reichtum in die Pflicht nimmt, um die öffentliche Armut zu überwinden, die Staatseinnahmen erhöhen. Die großen Herausforderungen der Klimakrise, des wirtschaftlichen Umbruchs und der sozialen Spaltung erfordern einen handlungsfähigen Sozialstaat. Die Schuldenbremse fesselt demokratische Politik. Sie ist vollkommen aus der Zeit gefallen und muss überwunden werden. Sollte die Ampel aber versuchen, die Schuldenregeln einzuhalten, indem sie die Hand an den Sozialstaat legt, wird dies auf den entschiedenen Widerstand von Gewerkschaften, Sozial- und Umweltverbänden treffen.