Als wir kürzlich mit meiner ältesten Tochter in eine Buchhandlung gingen, suchte sie sich auch ein Buch über den ukrainischen Sprengstoffspürhund Patron aus. Es ist nicht das erste Buch über diesen niedlichen Hund im Bücherregal meiner Kinder. Dank des schlauen Tieres sind meine Kinder von der Arbeit der ­Minenräumer fasziniert. Und wissen inzwischen viel über verschiedene Arten von Sprengstoffen. Mir erscheint dieses Wissen für ein Kind manchmal surreal.

Die ukrainische Realität lehrt uns jedoch das Gegenteil: Rund 174.000 km² des ukrainischen Territoriums sind nach wie vor vermint. Das entspricht der Größe von zwei ­Österreich oder drei Kroatien oder der Hälfte von Deutschland. Im vergangenen Jahr wurde eine Fläche von 362 km² geräumt, eine Fläche etwas größer als die von München.

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Olha VorozhbytFoto: privat

Die Minenräumung ist in vielerlei Hinsicht äußerst kompliziert und gefährlich. Russland feuert jeden Tag eine beträchtliche Anzahl von Geschossen auf die Ukraine ab. Verschiedenen Quellen zufolge explodieren bis zu 20 Prozent davon nicht, es sind Sprengkörper, die später von Minenräumern entschärft werden müssen. Zudem: An der Front werden ständig neue Leute gebraucht, so dass in vielen Bereichen, darunter auch bei der Minenräumung, bereits ein Arbeitskräftemangel herrscht. Der Hauptgrund für den ­Mangel in diesem speziellen Bereich ist jedoch in erster Linie fehlendes qualifiziertes Personal und fehlende finanzielle Mittel. Auf dem ersten Minenräumungsforum im Herbst 2023 erklärte der ukrainische Premierminister Denys Schmyhal, dass die Ukraine 37 Milliarden US-Dollar und mehr als 10.000 Minenräumer ­be­nötige, um das Land vollständig zu ­entminen. Derzeit gibt es nur rund 3.000 Spezialisten, darunter seit Beginn des russischen Angriffskriegs etliche durch Schulungen und Spezialkurse ausgebildete Minenräumer.

Vom Anwalt zum Minenräumer

„Ich habe als Anwalt gearbeitet. Als die groß angelegte Invasion begann, beschloss ich, dass ich etwas Wichtiges tun muss. In einem sozialen Netzwerk sah ich eine Anzeige für einen Minenräumer-Kurs durch eine internationale Organisa­tion. Ich fiel beim ersten Mal durch, wiederholte die Ausbildung, bestand sowohl die theoretische als auch die praktische Prüfung“, erzählt Anton Zlobin, heute ­Minenräumer der internationalen Organisation HALO Trust in der Ukraine. HALO Trust ist eine der Organisationen, die am längsten im Bereich der humanitären Minenräumung in der Ukraine tätig ist – seit 2016 ergänzt sie die staatliche Minen­räumung in verschiedenen ukrainischen Regionen. Anton ist nun seit über einem Jahr als Minenräumer tätig. Die Aufgabe von ihm und seinen Kollegen ist es, nach Sprengkörpern zu suchen und diese aufzuspüren: „Wir finden einen explosiven Gegenstand, markieren ihn, und dann arbeiten die Sprengstoffexperten damit.“

Wenn man sich die Liste der Unternehmen und Organisationen ansieht, die für die Durchführung von Minenräum­aktionen zertifiziert und zugelassen sind, findet man unter den internationalen ­Stiftungen und Organisationen auch viele ukrainische Unternehmen, und ihre Zahl nimmt zu. Allein: Minenräumer wie Anton arbeiten mit weniger sozialer Absicherung und Garantien wie die Kollegen staatlicher Dienste und der ukrainischen Streitkräfte. Dies ist einer der ­Gründe, warum Anton im vergangenen Jahr beschloss, die Gewerkschaft der ­Minenräumer von HALO Trust in der Ukraine zu gründen. Inzwischen plant er, sich mit anderen, weniger gut abge­sicherten Kollegen aus anderen Organi­sationen zusammenzuschließen.

Gleichzeitig bleibt das Wissen über Sprengstoffe für ukrainische Kinder ­leider äußerst nützlich. Die Verseuchung durch die Sprengstoffe im Land ist so groß, dass dieses Problem auf ihren Schultern noch lange lasten wird.

Olha Vorozhbyt ist stellvertretende Chef- Redakteurin des ukrainischen Nachrich- tenmagazins Ukrajinskyi Tyschden. Seit der Ausgabe 03_2022 schreibt sie regel- mäßig für uns ein Update aus der Arbeits- welt in der Ukraine.