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„Gemeinsam für die Kultur“ – Protest vor dem Gaumont-Kino in Buenos Aires gegen Kürzungen im KulturbereichFoto: Cristina Sille/picture alliance

ver.di publik: Wie ist die Lage im öffent­lichen Sektor in Argentinien nach dem Wahlsieg Javier Mileis? 

Clarisa Gambera: Wenn es ein Angriffsziel der rechten Regierung Javier Milei gibt, dann hat es mit dem öffentlichen Sektor und der Idee des Staates zu tun. Mit anderen Worten: Es handelt sich um eine Regierung, die unsere Vorstellung vom Staat demontieren will. Seit dem Amtsantritt von Milei sind wir in Alarmbereitschaft und mobilisieren. Wir befinden uns jetzt in einer Phase des Widerstands, weil wir Entlassungen in allen Bereichen erleben. Es werden Programme konkreter öffentlicher Politik abgebaut, viele davon im Zusammenhang mit Gender, Diversität und Menschenrechten. ­Milei hat ein offen antifeministisches, menschenrechtsfeindliches Regierungsprogramm, seine Vizepräsidentin ist eine Leugnerin der Militärdiktatur. Und das bedeutet, dass der Abbau der öffentlichen Politik uns Gewerkschaften und Frauen zum vorrangigen Ziel hat. Alles, was mit öffentlichen Maßnahmen zur Beseitigung von Ungleichheiten zu tun hat, wird weggefegt.

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Feministin und Gewerkschafterin Clarisa GamberaFoto: Andreas Knobloch

Milei setzt auf eine ultraliberale wirtschaftliche „Schocktherapie“. Er hat ein Notstandsdekret erlassen und ein umfangreiches Gesetzespaket mit weitreichenden Reformen präsentiert.

Milei will ein Haushaltsdefizit von Null ­erreichen und dafür den Staat auf sein Minimum reduzieren. Nicht nur durch die Schließung spezifischer staatlicher Programme, sondern auch durch die Privatisierung staatlicher Unternehmen. Milei hat zudem ein Dringlichkeitsdekret in Kraft gesetzt. Die Justiz hat jenen Teil, der die Arbeitsrechte angreift, gestoppt, aber alles, was mit der Deregulierung des Staates zu tun hat, ist in Kraft. Das Gesetz über die Mieten wurde dereguliert, die Preise für Medikamente und Lebensmittel wurden freigegeben, die Subventionen für die Grundversorgung und den Verkehr wurden abgeschafft. All dies wirkt sich direkt auf die Lebenshaltungskosten der Arbeiterklasse aus. Milei steht für einen Rückzug des Staates. Heute stehen wir vor der Schließung staatlicher Behörden in allen Provinzen unseres Landes, einem Rückzug des Staates bei der Finanzierung des Bildungs- und Gesundheitswesens. Das bedeutet, dass viele Menschen ­entlassen wurden, viele von ihnen sind ­Frauen.

Als Antwort auf die Maßnahmen Mileis gab es recht schnell Proteste, am 24. Januar sogar eine Art landes­weiten Generalstreik. Wie sieht die Situation aktuell aus?

Wir hatten zuletzt gerade die Demonstration zum 8. März. Wir Gewerkschafterinnen von ATE haben uns gesagt: Wir haben einen Angriff gegen den Staat, gegen die Feministinnen, gegen die Arbeiterbewegung. Weil die Arbeiterbewegung in Argentinien ein Deich zur Eindämmung der Bestrebungen des Kapitals ist – und dieser Deich ist das Angriffsziel. In der argentinischen Geschichte gab es immer wieder Angriffe auf die Gewerkschaften und die Form der gewerkschaftlichen Organisation. Und die argentinische Arbeitsgesetzgebung widersetzt sich bis heute, sie ist immer noch eine der stärksten in der Region. Das ist der Grund, warum die Regierung dagegen vorgeht.

Gleichzeitig sind in der Bevölkerung und bei den Gewerkschaften viel Ungewissheit zu spüren.

Man muss unterscheiden zwischen Angst und Disziplinierung. Die Angst vor Entlassungen ist riesig. Die Disziplinierung wirkt durch die sehr niedrigen Löhne. Hinzu kommt der repressive Zirkus, den Patricia Bulllrich, die Ministerin für Innere Sicherheit, inszeniert. Für uns war der 8. März deswegen sehr wichtig, weil wir gezeigt haben, dass die Polizei bei großen Menschenmassen nicht auf der Bildfläche ­erscheinen konnte. Aber diese drei Phänomene, die niedrigen Löhne, die drohenden Entlassungen und das repressive System, zwingen alle zum Rückzug.

Die andere Sache ist, dass Milei die Wahlen gewonnen hat. Mit anderen Worten: Es gilt, jemanden zu schlagen, der demokratisch gewählt wurde. Es ist ein komplexes Szenario. Alle Gewerkschaften ­haben Mitglieder, die für Milei gestimmt haben. Das wirtschaftsdemokratische Projekt seit dem Ende der Militärdiktatur in Argentinien ist brüchig geworden und war nicht mehr mehrheitsfähig. Wir alle wissen, dass der Konsens gegen die neue Regierung erst einmal hergestellt werden muss. Der Streik vom 24. Januar war dafür sehr wichtig. Und wir fahren auf dieser Linie fort. Es gibt aber immer noch eine starke Verächtlichmachung der Gewerkschaften. Das hat mit der großen Politikverdrossenheit zu tun. Und es gibt auch kein neues, auch kein politisches Projekt, aus dem man Hoffnung schöpfen könnte. Die Krise vertieft sich und wir wissen nicht, wohin das führen wird. Es herrscht eine große Unsicherheit.

Die wirtschaftliche Situation spitzt sich zu: Die Inflation ist hoch, die Löhne stagnieren, die Lebenshaltungskosten steigen. Welche Perspektive sehen Sie?

Am 31. März laufen die Arbeitsverträge vieler Menschen aus; es wird Tausende von Entlassungen geben. Und das wird den Konflikt anheizen. Was die Wirtschaft betrifft, so ist die Gnadenzeit vorbei. Die Sommerferien sind vorbei; der Konsum bricht merklich ein. Wir warten alle darauf, dass die Figur des Präsidenten weitere Risse bekommt und bauen weiter Netzwerke auf. Ich glaube, dass wir uns auf einen weiteren Generalstreik zubewegen. Wir von der ATE sind schon ständig auf der Straße. Am 15. Januar waren wir auf der Straße, weil Arbeitsverträge von 2023 aufgelöst wurden. Wir waren am 24. Januar mit allen Gewerkschaften beim ­Generalstreik dabei. Als das INADI, das Institut gegen Diskriminierung und Fremdenfeindlichkeit, geschlossen wurde, ­waren wir dort und haben protestiert. Wir haben die Schließung des Frauen­ministeriums mit Protesten begleitet.

Gefühlt wird jeden Tag eine andere staatliche Behörde oder Institution geschlossen.

Ja, jeden Tag haben wir eine neue Entwicklung. Gerade haben wir Massenentlassungen in der Kultur. Vor einigen Tagen kam der Beschluss, das INCAA, das Nationale Filminstitut, zu schließen. Es hört nicht auf. Es zermürbt uns. Wir müssen uns mehr Gedanken über Taktik machen. Die Regierung versucht, uns zu zermürben und setzt auf Konflikt. Sie will gar nicht gut dastehen. Milei will keine Einigung. Dieser Mann will kaputt machen. Das ist neu und seltsam. Wie kann eine Gewerkschaftsstrategie aussehen angesichts einer Regierung, die Konflikt provoziert, die gar nicht gut dastehen will?

Gute Frage. Wie werden die kommenden Wochen und Monate aussehen?

Wir dachten, Argentinien sei das Land des Peronismus, der Menschenrechte, der Frauenrechte; als ob wir immun ­wären gegen den Typus vom Schlage ­Mileis. Ich habe immer noch die Hoffnung, dass wir ein aufrührerisches Land sind. Patricia Bullrich sagt: Es ist verboten, auf die Straße zu gehen. Aber dieses Land hat seine gesamte Geschichte auf der Straße aufgebaut. Wir wissen nicht, wie wir nicht auf die Straße gehen sollten. Wir werden sehen, ob wir etwas von dieser Erinnerung, dieser DNA weiter in uns haben. Wir warten darauf, dass etwas ­davon zum Vorschein kommt. Wir haben schon früher gesehen, wie Dinge explodieren. Schauen wir mal… (lacht).

INTERVIEW: Andreas Knobloch