Vor kurzem fand in Kyjiw ein Buchfestival statt, zu dem unglaublich viele Besucher kamen. Trotz aller Schwierigkeiten (der Krieg, die Mobilisierung der Arbeitskräfte und die täglichen russischen Bombenangriffe auf Charkiw, wo sich die meisten ukrainischen Druckereien befinden) steht das Buchwesen in der Ukraine nicht still. Die Zahl der Ukrainer, die täglich lesen, hat sich seit Beginn des Krieges verdoppelt. Fast jeden Monat werden in den Großstädten neue Buchhandlungen eröffnet, in den kleineren Städten und ­Dörfern ist die Situation völlig anders.

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Olha VorozhbytFoto: privat

Boriwka liegt nur 70 Kilometer von Kyjiw entfernt. In dem Dorf leben etwas mehr als 600 Menschen. Es gibt eine Schule und eine Bibliothek. „Die Leute kommen jetzt öfter zu mir, weil ich neue Bücher habe, auch wenn es nur wenige sind.

Seit 2022 habe ich fast 3.000 Veröffent­lichungen aussortiert. Das sind alte Bücher. ­Einige wurden 1949 veröffentlicht. Um sie zu ersetzen, suche ich nach neuen ­Büchern oder bitte die Leute, sie zu spenden. Gerade habe ich zwei Bücher bei der Post abgeholt, die ich bei einer Verlosung des Verlags gewonnen habe“, sagt Natalja Tkatschenko, die Bibliothekarin.

131 zerstörte Bibliotheken

Im Jahr 2022 haben die ukrainischen ­Bibliotheken fast 19 Millionen Bücher aussortiert, davon 10 Millionen in russischer Sprache. Bei vielen der aus den ­Bibliotheken-Bestand genommenen ­Büchern handelt es sich in der Tat um sehr alte Bücher, deren Texte oft sowjet­ische Propaganda enthalten. Diese Situation sowie die Tatsache, dass die Bibliotheken unter dem russischen Beschuss und dem Krieg leiden (bis Anfang 2024 wurden 131 Bibliotheken in der Ukraine vollständig zerstört und 746 mussten nach russischen Angriffen umfassend ­instandgesetzt werden), veranschaulicht die Schwierigkeiten des Bibliotheks­wesens und die Bedeutung dieser Einrichtung in kleinen Städten und Dörfern.

„Am Vorabend von Ostern hatte ich Besuch von Grundschülern. Ich hatte eine Aufgabe für sie vorbereitet: Ostereier aus Papier, die sie färben konnten, während die Lehrerin ihnen ein Märchen vorlas. Und nächste Woche kommt eine andere Klasse,“ erzählt Natalja. Gleichzeitig ist ihr Gehalt sehr niedrig – weniger als 100 Euro –, da es sich nicht um eine Vollzeitstelle handelt. Diejenigen, die Vollzeit arbeiten, bekommen etwa 150 Euro. Trotzdem arbeiten Bibliothekarinnen (in der Ukraine sind sie meist Frauen) unermüdlich: Sie suchen ständig nach neuen Büchern und fördern das Lesen.

Trotz des Krieges stellen die lokalen Gemeinschaften immer noch kleine Geld­beträge für die Bibliotheken für den Kauf von neuen Büchern zur Verfügung. Auch Freiwillige helfen ein wenig. So gibt es Menschen, die bereit sind, sich von ihren gelesenen Büchern zu trennen und diese an Bibliotheken zu spenden. So habe ich auch Natalja kennengelernt. Meine erste Spenden-Kiste mit Büchern für eine Dorfbibliothek ging nach Boriwka. Oft teilen sich große Bibliotheken Bücher oder organisieren Büchersammlungen für ihre „kleineren Kollegen“, aber das reicht nicht aus. Der Krieg hat bei den Ukrainern ein großes Interesse an ihrer ­eigenen Geschichte und Selbstfindung geweckt. Und für Kinder sind sie, auch angesichts der modernen Herausforderungen, ein wichtiges Element zur Selbstentfaltung.

Kürzlich traf ich auf einer Reise einen Erstklässler aus einer ländlichen Schule und seine Mutter. Als ich ihn nach seinem interessantesten Ereignis fragte, das ihm in letzter Zeit widerfahren sei, erinnerte sich der Junge an einen Ausflug in die Dorfbibliothek.

Olha Vorozhbyt ist stellvertretende Chef-Redakteurin des ukrainischen Nachrichtenmagazins Ukrajinskyi Tyschden. Seit der Ausgabe 03_2022 schreibt sie regelmäßig für uns ein Update aus der Arbeitswelt in der Ukraine.