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Erzieher*innen-Protest: Entlastung händeringend gesuchtFoto: Florian Boillot

"Ich habe keine Zeit mit den Kindern zu spielen, keine Zeit ihnen beizustehen, ich habe keine Zeit zu bilden." Erzieher Thomas Ribbeck vom Berliner Kita-Eigenbetrieb Südwest ruft diese Sätze am 11. Juni verzweifelt von der Bühne vor dem Berliner Abgeordnetenhaus. Er ist am Ende, so wie viele seiner Kolleg*innen. Tausende pädagogische Fachkräfte der fünf Berliner Kita-Eigenbetriebe streiken seit Anfang Juni immer wieder vor dem Roten Rathaus. Auch Eltern sind dabei. Eine Mutter ruft empört ins Mikrofon: "Es geht nicht mehr. Das gesamte Kita-System ist am Kollabieren, und die Politiker*innen schauen einfach zu."

So wie in Berlin ist es im ganzen Land: Mangelnde Personalbemessung, Überlastung, Krankheitsausfälle, Fluktuation, Fachkräftemangel. Die Burn-Out-Quote der Beschäftigten ist hoch. Vielfach können sie ihrem gesetzlichen Auftrag der Erziehung und Bildung nicht mehr nachkommen. Oft geht es nur noch darum, dass alle, Kinder und Beschäftigte, den Tag in der Kita heil überleben. Selbst die Betreuung ist oft nicht mehr gewährleistet und Öffnungszeiten müssen verkürzt, Gruppen, gar ganze Kitas geschlossen werden.

Gemeinsame Gefährdungsanzeige

Um die dramatische Situation zu stoppen und sich aktiv für Veränderung einzusetzen, haben Beschäftigte im vergangenen Jahr gemeinsam mit ver.di die bundesweite Initiative "SOS Kita" ins Leben gerufen. Das Ziel: Die Kinder und sich schützen, politisch Druck aufbauen. Mit unterschiedlichen Aktionen machen sie auf die Eskalation und den sich weiter verschärfenden Fachkräftemangel in ihren Kitas aufmerksam. So wie in Berlin standen seit Herbst 2023 in fast allen Bundesländern Kita-Beschäftigte jede Woche Donnerstag vor Staatskanzleien, Senaten, Landes- und Bundesministerien. Monatelang waren sie mit ihren Mahnwachen unter dem Motto "Es donnert in den Kitas" für alle sichtbar.

Um zu verdeutlichen, wie erheblich Kinder und Beschäftigte in den Einrichtungen gefährdet sind, übergaben Kita-Beschäftigte am 24. Mai eine "Kollektive Gefährdungsanzeige" mit mehr als 27.000 Unterschriften aus dem ganzen Land an die Jugend- und Familienministerkonferenz in Bremen. "Wir erwarten von den Landesministerinnen und -ministern, dass sie sich bei der Bundesregierung und in ihren jeweiligen Ländern dafür einsetzen, dass Bund und Länder verantwortlich zusammenarbeiten und die Instabilität des Kita-Systems endlich zur Chefsache machen", erklärte Christine Behle, stellvertretende ver.di-Vorsitzende.

Größte Fachkräftelücke

Die erstmalig veröffentlichten Detail- ergebnisse der ver.di-Arbeitszeitbefragung, an der sich bundesweit 12.614 Erzieherinnen und Erzieher beteiligt haben, verdeutlichen die gravierenden Probleme und Personalengpässe in den Kitas. Die Fachkräftelücke wächst von Jahr zu Jahr. Momentan liegt sie bei über 20.000 unbesetzen Stellen – das ist statistisch die größte Fachkräftelücke, in keiner anderen Berufsgruppe klafft so ein Loch offener Stellen in Deutschland. "Das ist dramatisch und zeigt, dass hier dringend Maßnahmen erforderlich sind, um der Situation entgegenzuwirken", sagt Behle.

Laut der Befragung werden offene Stellen aufgrund der Arbeitsmarktlage (66 Prozent) und der schlechten Arbeitsbedingungen (54 Prozent) nicht mehr nachbesetzt. Mit der Folge: 88 Prozent der Beschäftigten fühlen sich nach der Arbeit ausgebrannt und leer, 85 Prozent können sich nicht mehr erholen und abschalten. Viele Beschäftigte verzichten auf Pausen, und machen regelmäßig Überstunden, um nicht besetzte Stellen auszugleichen und ausgefallene Beschäftigte zu vertreten. Rund 70 Prozent fühlen sich dadurch stark belastet.

"Die Fachkräftekrise in den Kitas wird sich noch mehr verstärken, wenn die Arbeitsbedingungen nicht unverzüglich verbessert werden", sagt Behle. Dazu bedürfe es zahlreicher Sofortmaßnahmen, die die Erzieher*innen in ihrer täglichen Arbeit entlasten würden, eine Verbesserung der Personalschlüssel und der Stopp des Abbaus der Qualitätsstandards. ver.di drängt zudem auf einen bundesweiten Kita-Gipfels und die Beteiligung des Bundes in einem relevanten Umfang an der Finanzierung.

Tarifbewegung Entlastung

"Wir haben uns bei ver.di zusammengeschlossen, um etwas zu ändern", sagt Erzieherin Anne Lembcke vom Berliner Kita-Eigenbetrieb Nordost, die an diesem 11. Juni auch vor dem Abgeordnetenhaus streikte. Im April schon hat die ver.di-Tarifkommission, der Anne angehört, die Forderungen für eine Tarifvertrag "Pädagogische Qualität und Entlastung" beschlossen und an das Land Berlin übergeben, der auch die Festlegung einer Mindestpersonalausstattung und damit ein zahlenmäßig besseres Verhältnis von Kindern pro Fachkraft beinhaltet.

"Wir erhoffen uns von dem Tarifvertrag, dass wir endlich wieder so erziehen und betreuen können, wie es unserem pädagogischen Anspruch entspricht und vor allem, wie es den Kindern auch zusteht", sagt Anne Lembcke. Erzieher Thomas Ribbeck ruft von der Bühne: "Wir verlangen den Tarifvertrag, damit wir eine Zukunft haben".

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