Ausgabe 02/2025
"Ein Steuerparadies für Multimillionäre"

ver.di publik: Sie halten das deutsche Steuersystem für extrem ungerecht. Warum?
Karl-Martin Hentschel: Wer Vollzeit zum Mindestlohn arbeitet, muss rund 50 Prozent für Sozialabgaben, Verbrauchs- und Einkommenssteuern abgeben. Für Reiche ist Deutschland dagegen ein Steuerparadies. Die BMW-Großaktionärin und Erbin Susanne Klatten lässt sich nur einen geringen Teil ihrer Milliardeneinkünfte für ihren privaten Konsum auszahlen – und darauf werden dann Verbrauchs- und Einkommenssteuer fällig. Der größte Teil verbleibt in ihren Firmen und steigert deren Wert. Ihre Dividenden lässt sie an eine Private-Holding überweisen – eine Art Geldsammelmaschine. Durch diese Konstruktion liegt ihr Einkommensteuersatz bei nur bei 1,5 Prozent. Würde sie sich die Dividenden auf ihr Privatkonto auszahlen lassen, müsste sie 25 Prozent Abgeltungssteuer zahlen.

Und wie sieht es mit den Erbschaftssteuern aus?
Wird ein Handwerksbetrieb verkauft, zahlen die Erben in der Regel zwischen 15 und 30 Prozent Steuern. Werden Firmenanteile weitergegeben, die mehr als 20 Millionen Euro wert sind, liegt der durchschnittliche Satz der Erbschaft- und Schenkungsteuer bei nur 2 Prozent. Für die Besitzer großer Firmen gibt es nämlich eine Sonderregelung, dass sie keine Erbschaftssteuer zahlen müssen, wenn sie kein Barvermögen haben. Und dafür sorgen sie natürlich – sie legen ihr gesamtes Geld einfach in Firmen oder Immobilien an.
Reiche Leute können außerdem alle zehn Jahre Schenkungen an ihre Nachkommen machen. So erbten 220 Kinder im Jahr 2023 zusammen 43 Milliarden Euro steuerfrei. Zum Vergleich: Die Grundsicherung für drei Millionen Kinder, die in Armut aufwachsen, hätte 12 Milliarden Euro gekostet. Aber dafür war kein Geld da.
Wie viel Geld entgeht dem Staat auf diese Weise?
Die gesamte Steuervermeidung in Deutschland durch Ausnahme- und Sonderregelungen für Multimillionäre beträgt etwa 100 Milliarden im Jahr, wie das Netzwerk Steuergerechtigkeit ausgerechnet hat. Anders gesagt: Würden diese Regelungen abgeschafft, hätte der Staat 100 Milliarden Euro mehr.
War das schon immer so ungerecht?
Nein. Der frühere US-Präsident Roosevelt hatte seit den 1930er Jahren hohe Einkommens- und Erbschaftssteuern eingeführt. Der Spitzensteuersatz lag bei 94 Prozent und galt ab einem Einkommen von 25.000 Dollar – das entspricht heute einer halben Million. Nach dem zweiten Weltkrieg gab es praktisch in allen kapitalistischen Ländern hohe Steuern. In Deutschland lag der Spitzensteuersatz zunächst bei 95 Prozent. Das war die Basis für den enormen Wirtschaftsaufschwung in den 1950er Jahren. In den 1980er Jahren begann mit Margret Thatcher in Großbritannien und Ronald Reagan in den USA dann ein internationaler Steuersenkungswettbewerb.
„Die gesamte Steuervermeidung in Deutschland durch Ausnahme- und Sonderregelungen für Multimillionäre beträgt etwa 100 Milliarden im Jahr.“
Seit 1997 gibt es in Deutschland keine Vermögenssteuer mehr. Könnte man sie wieder einführen?
Ja. Ausgesetzt ist sie, weil das Bundesverfassungsgericht bemängelte, dass die Besteuerung von Immobilien und anderen Werten ungleich war. Anstatt das neu zu regeln, wird seither überhaupt keine Vermögenssteuer mehr erhoben, obwohl sie im Prinzip weiter existiert.
Obwohl der Staat dringend Geld braucht, ist von Reichensteuern nie die Rede. Warum nicht?
Linke, SPD und Grüne hatten die Vermögenssteuer in ihren Wahlprogrammen, haben sich aber nicht getraut, dass laut zu sagen.
Aber Reichensteuern wäre ja zum Vorteil des allergrößten Teils der Bevölkerung. Warum wird es dann nicht thematisiert?
Die größten Werbeetats in diesem Land hat der Verband "Die Familienunternehmer". Das ist keine Vertretung von kleinen Betrieben, sondern ein Milliardärs-Club. Sobald eine Partei Steuern fordert, startet der Verband eine Kampagne, die der Partei die Wirtschaftskompetenz abspricht und eine wachsende Arbeitslosigkeit prognostiziert. Deswegen traut sich keiner, das Thema anzupacken.
Sie schlagen eine Steuerrevolution vor, was meinen Sie damit?
Wir müssen den Reichtum umverteilen. Wir setzen uns dafür ein, dass es sowohl eine Deckelung von privatem Vermögen als auch von Einkommen gibt. Und es sollte festgelegt werden, wie groß der Unterschied in der Gesellschaft maximal sein darf.
Und wie ließe sich das umsetzen?
Wir wollen eine gesellschaftliche Diskussion anstoßen. Vermögen oberhalb von 20 Millionen hat nichts mehr mit Glück oder Zufriedenheit zu tun, sondern es geht nur noch um Macht. Wenn die Ungleichheit immer größer wird, sprengt das die Demokratie. Ungleichheit ist aber auch Gift für die Wirtschaft. Die Superreichen legen in der Regel ihr Geld in Aktien und Immobilien an. Das führt aber nicht dazu, das neu investiert wird, sondern dass die Preise für Aktien und Immobilien steigen. Würde dagegen der Staat einen Teil dieses Geldes als Vermögenssteuer einnehmen, könnte er es zum Beispiel in neue Elektrobusse investieren oder für Gehälter von Erzieher*innen, Pflegepersonal und Lehrer*innen ausgeben. Damit würde das Geld wieder in die Wirtschaft zurückfließen.
Welche praktischen Schritte schlagen Sie vor?
Unser Ziel ist, diese Fragen in der Verfassung klar zu regeln. Die Obergrenze für Vermögen sollte bei 20 bis 30 Millionen Euro liegen, also dem tausendfachen eines niedrigen Jahreseinkommens. Das ist die Grenze zwischen mittelständischen Unternehmen, die einem Eigentümer gehören, der sie persönlich mit seinem Engagement betreibt, und Großbetrieben. Das maximale jährliche Einkommen sollte 2 Millionen betragen – also etwa das Hundertfache des Mindesteinkommens. Und wir wollen, dass eine maximale Einkommens- und Vermögensspreizung definiert wird.
„In Deutschland lag der Spitzensteuersatz zunächst bei 95 Prozent. Das war die Basis für den enormen Wirtschaftsaufschwung in den 1950er Jahren.“
Und wie könnte das konkret umgesetzt werden?
Die Verfassung sollte eine unabhängige Kommission vorsehen, die jährlich prüft, ob sich die Realität auf das Verfassungs-Ziel zubewegt, also die Ungleichheit abnimmt. Ist das nicht der Fall, soll die Kommission Vorschläge machen, wie die Politik das Steuersystem weiterentwickeln kann.
Halten Sie Ihren Vorschlag für durchsetzbar?
Aktuell noch nicht. Aber große Veränderungen in der Gesellschaft funktionieren nie kontinuierlich, sondern sprungartig, wenn das System in eine existenzielle Krise gerät. Dann muss ein Konzept in der Schublade liegen.
Wann könnte es so weit sein?
Ich erwarte, dass die Ungleichheitsdebatte zunimmt. Das sagen nicht nur wir, sondern auch international renommierte Ökonomen wie Thomas Piketty oder Emmanuel Saez. Zu gegebener Zeit muss man die Situation nutzen, um eine Reichtumsbremse in die Verfassung aufzunehmen. Dann gibt es eine Basis für entsprechende Gesetze – und dann muss nicht mehr darüber diskutiert werden, ob man Steuern erhöht, sondern wie man es macht. Da vertraue ich dem Sachverstand der Fachpolitiker, vernünftige Lösungen zu entwickeln.
Interview: Annette Jensen