Ausgabe 03/2025
Umsteuern ist ein weites Feld
"Boitzenburger Land hat so viel Fläche wie Düsseldorf – mit 3.000 Einwohnern", sagt Bürgermeister Frank Zimmermann. Von der Ausdehnung gehört die brandenburgische Gemeinde in der Uckermark zu den hundert größten in Deutschland, doch pro Quadratkilometer wohnen hier nur 14 Menschen. Das Grün der umstehenden Bäume flutet durch die Fenster des Amtszimmers. Zu DDR-Zeiten war das ein Behandlungsraum des Landambulatoriums, wo mehrere Fachärzt*innen praktizierten, ist auf einem Schild zu lesen.
Ein paar Schritte entfernt liegt die Bushaltestelle, an der immerhin drei Linien halten. "In manchen Ortsteilen ist der ÖPNV aber nur ein besserer Schülerverkehr", räumt der 42-jährige Bürgermeister ein. Er selbst konnte in seiner Jugend im zentralen Dorf Boitzenburg noch die zehnte Klasse absolvieren, inzwischen liegen alle weiterführenden Schulen über 20 Kilometer entfernt.
Ortswechsel: Fabian sitzt auf einer Bank der Bushaltestelle vorm Gymnasium in Templin in der Sonne, zusammen mit Freunden. Um 6:20 Uhr ist der Jugendliche heute früh losgefahren in Hardenbeck, einem Ortsteil der Gemeinde Boitzenburger Land, einmal umgestiegen und um 7:15 Uhr an der Schule eingetroffen, 7:30 Uhr war Unterrichtsbeginn. Und jetzt, um kurz vor 15 Uhr, geht es zurück. Wie fast alle Jugendlichen hier träumt Fabian von einem eigenen Moped. Sein Freund Anton hat schon eins, nutzt es aber nur nachmittags fürs Fußballtraining. "Ich finde es angenehmer mit dem Bus, vor allem im Winter. Und beim Moped ist ja auch immer die Frage, wo ich es sicher abstellen kann", sagt Anton. Schließlich Fabians Vater schon eine S51 geklaut.
Die Landliebe
Trotz der Fahrerei leben die beiden gern auf dem Land. Schwierig sei es mit Partys und Treffen an Wochenenden. Da muss Fabian manchmal schon morgens den Bus nehmen, um am Nachmittag dabei sein zu können. Auch die Eltern als Fahrdienst und das Bett der Großeltern in Templin sind wichtige Eckpfeiler seiner Freizeit-Logistik.
Der Bus kommt und alle steigen ein. Während Fabian auf dem Handy daddelt, lernt ein Mitschüler für die Führerscheinprüfung. Wilhelmine hat es sich hinten im Bus bequem gemacht und liest einen Roman. Wenn sie mit ihren Freundinnen zusammen Schulschluss hat, quatschen sie meistens. Aber heute fährt die 15-Jährige allein, weil der Lateinunterricht später endet. Immerhin muss sie nicht wie früher eine Stunde am Zentralen Omnibusbahnhof in Templin auf den Anschluss warten. "Das hat Mama geschafft", erzählt Wilhelmine stolz. Ihre Mutter hatte mit Hilfe eines Landtagsabgeordneten ein Treffen mit der Uckermärkischen Verkehrsgesellschaft (UVG) und der Schuldirektorin organisiert. Nun fährt der Bus einen Schlenker und der Unterricht endet fünf Minuten früher.
Draußen zieht die sattgrüne Landschaft vorbei, der Bus rumpelt durch schlaglochreiche Alleen und an gleißenden Rapsfeldern vorbei. Auch Wilhelmine lebt gern hier und möchte nach dem Studium zurückkehren. Das freut Bürgermeister Zimmermann, denn Boitzenburgs Bevölkerung schrumpft und altert. Seit dem Ende der DDR hat die Gemeinde mit ihren zehn Ortsteilen 2.000 Einwohner*innen verloren, entsprechend geringer fallen die Steuereinnahmen aus. Doch Laternen, Straßenentwässerung und vieles mehr müssen weiter finanziert werden. Vergeblich fordert der Bürgermeister von der Landesregierung, die Zubringerstraßen zu reparieren – und hört jedes Mal, die stärker frequentierten Strecken hätten Vorrang.
Dienstleistung zu den Menschen bringen
Wichtige Versorgungsstellen wie Bäckerei, Fleischerei, Sparkasse, Apotheke und Zahnarzt sind längst verschwunden. Doch Zimmermann jammert nicht. Immerhin gibt es im Ort ja noch einen kleinen Edeka-Markt und einen Arzt. Der Bürgermeister mit dem blonden Kurzhaarschnitt will dafür sorgen, dass die Menschen bis ins hohe Alter hier leben können. "Wenn die Leute nicht mehr selbst in die Stadt kommen – wie kommen dann Waren und Dienstleistungen zu ihnen?" ist für ihn eine zentrale Frage.
Neben dem Laden steht eine Box zum Bestellen von Medikamenten, die eine Prenzlauer Apotheke ins Haus liefert. Es gibt auch einen Geldautomaten, einmal wöchentlich kommt ein Mitarbeiter der Volksbank zur Beratung hierher, und die UVG experimentiert mit dem Transport von Waren per Bus. Zimmermann hat Verständnis dafür, dass letztere den Fahrplan nicht ausweiten kann. Zugleich setzt er auf die Digitalisierung: Homeoffice in einer extrem schönen Gegend könnte neue Menschen anlocken. Dank eines Förderprogramms sind die weißen Flecken in der Internetversorgung weitgehend verschwunden.
Außerdem war Boitzenburger Land eine der ersten Kommunen beim "Pakt für Pflege Brandenburg". Damit Alte selbstbestimmt zu Hause bleiben können, hat die Projektkoordinatorin viele Beratungs- und Unterstützungsangebote aufgebaut und eine Begegnungsstätte eingerichtet. Doch solange es geht, setzen hier fast alle aufs eigene Auto. Auch Rentner Eckhard Schiller kann sich seinen Alltag nicht ohne seinen schwarzen Passat vorstellen; den Bus benutzt er nie. Zugleich ist er aber auch viel mit dem E-Bike unterwegs.
Templin: Billige Bustickets & guter Service
Das gut 20 Kilometer südlich gelegene Templin hat andere Möglichkeiten für die Mobilitätswende – und andere Probleme. Kurz nach der Wiedervereinigung bildeten sich vor allem in der historischen Innenstadt permanent Staus, während die Busse fast leer herumfuhren: schlechte Voraussetzungen für die Anerkennung als Kurort.
1997 führte die Stadt ein kostenloses ÖPNV-Ticket für alle Bewohner*innen ein. "Danach nutzten 15-mal so viele Leute die Busse wie vorher, alle waren überfüllt", berichtet der für Wirtschaftsförderung zuständige Sebastian Tattenberg. Die Stadt weitete das ÖPNV-Angebot aus, verordnete im Zentrum Tempo 30, baute die meisten Ampeln ab und gestaltete den Verkehrsraum gerechter für Fußgänger und Radfahrende. Inzwischen kostet ein Jahresticket 44 Euro. Die für ein staatlich anerkanntes Thermalsolebad notwendigen Gutachten belegen, dass die Luft in Templin eine gute Qualität hat. Rund 150.000 Euro lässt sich die Stadt den Zuschuss an die UVG kosten. "Das ist es uns wert", sagt Tattenberg.
Wer sich am Zentralen Omnibusbahnhof umhört, bekommt nur positive Reaktionen. Die Fahrzeuge seien pünktlich und bis 21 Uhr gilt ein 30-Minuten-Takt. Zudem gibt es stündlich PlusBus-Verbindungen in die anderen Städte der Uckermark. Der Service stimmt ebenfalls. Eine auf einen großen, schweren Elektro-Rollstuhl angewiesene 57-Jährige erzählt, dass sie vor dessen Anschaffung bei der UVG angerufen habe, ob sie damit mitfahren könne. "Ich war total erstaunt, als die Ja sagten." Als der Bus die Haltestelle erreicht, weiß der Fahrer schon Bescheid, dass sie heute mitfahren möchte. Mit einem Joystick bedient er die Elektrohebebühne an der Hintertür – und eine Minute später kann es weitergehen.
Zu wünschen übrig lässt dagegen die Bahn. Templins Hauptbahnhof ist in einem erbärmlichen Zustand, auf den hinteren Bahnsteigen wuchern Gras und kleine Bäume. Die Uhren sind stehen geblieben oder ohne Zeiger. Einst fuhren hier Züge in fünf Richtungen – jetzt bummelt gerade einmal eine Linie nach Berlin. "Man braucht dafür heute 100 Minuten, das ist für Pendler nicht akzeptabel", sagt Tattenberg. Seit Jahren verlangt die Stadt, dass es einen Sprinter mit wenigen Haltepunkten gibt, so dass die Hauptstadt nur 70 Minuten entfernt liegt.
Hamburg setzt auf E-Busse und neue U-Bahn
Während sich im Boitzenburger Land 14 Menschen einen Quadratkilometer Fläche teilen, sind es in Hamburg über 2.500. "Ein Auto ist hier total überflüssig – rausgeworfenes Geld", findet Thorsten Hukriede. Seit 19 Jahren ist der gelernte Informatiker einer von 4.000 Busfahrer*innen bei der Hamburger Hochbahn. "Ich brauch' die Straße und ich mag Menschen", begründet der Betriebsrat und ver.di-Vertrauensmann seine Berufswahl. Er selbst erledigt alle Alltagswege zu Fuß oder mit dem Hamburger ÖPNV – und den halten Verkehrswissenschaftler für vorbildlich in Deutschland, auch wenn die hochfliegenden Pläne eines 5 Minuten-Takts fürs gesamte Stadtgebiet zurückgestutzt wurden.
Zudem: Eine deutliche Reduzierung von Parkplätzen ist mit der SPD nicht zu machen. Und so ist der PKW-Bestand in der Stadt ständig gewachsen und nur im vergangenen Jahr minimal zurückgegangen, obwohl die Menschen in der Hansestadt immer weniger Kilometer mit dem Auto zurücklegen und immer mehr die Öffis nutzen. Vor allem das 9- und später das 49-Euro-Ticket haben dem ÖPNV einen Sprung nach oben beschert.
Andrea Rusch hat einen E-Bus unter einem der langen Dächer auf dem Betriebshof Alsterdorf abgestellt. Seit 4:19 Uhr hat die 61-Jährige das Fahrzeug etwa 200 Kilometer durch die Hansestadt gesteuert. Jetzt ist es 12:15 Uhr, sie klemmt sich ihre rote Dienstjacke unter den Arm und stöpselt den vom Dach hängenden Stecker in die Ladebuchse. Ein paar Meter entfernt startet Benjamin Reichel fröhlich pfeifend seine Schicht. "Ich komm immer mit dem Fahrrad her", sagt er. Nachdem er sich eingecheckt hat, erscheinen Liniennummer und Ziel automatisch auf der Stirnseite des Fahrzeugs. Während sein Bus leise summend vom Hof rollt, schlendert Andrea Rusch zu ihrem Roller. Feierabend!
352 E-Busse hat die Hamburger Hochbahn schon angeschafft – ein Drittel des Fuhrparks fährt inzwischen mit Ökostrom. "Wir sind Pioniere, wir tasten uns da seit sechs Jahren immer weiter ran", sagt Betriebshofmanager Jan Kobza, der durch die großen Scheiben seines Büros das Geschehen auf dem weitläufigen, von hohen Schallschutzwänden umstellten Gelände beobachten kann. Erst nach und nach werden die offenen Hallen mit der Ladetechnik ausgestattet, um von technischen Neuerungen profitieren zu können.
Die Baustelle
Während Kobza davon schwärmt, dass die Städte der Zukunft dank E-Antrieben viel leiser sein werden, röhrt ein Betonmischer unter seinem Fenster vorbei: Wenige Meter entfernt liegt der erste Bauabschnitt für Hamburgs Mega-Projekt U5, eine neue U-Bahnlinie. Um die Umgebung möglichst wenig mit Baustellenverkehr zu belästigen, warten die LKW auf dem Betriebshof der Hochbahn.
In 18 Meter Tiefe schieben Bulldozer riesige Erdhaufen zusammen, ein oben an der Baugrube stehender Bagger schaufelt den Sand auf einen Kipper. Im Abschnitt dahinter legen Bauarbeiter bereits Stahlmatten für die Bodenplatte aus, an manchen Stellen ist die Decke über dem künftigen Bahnsteig bereits gegossen. Schon 2027 soll hier der Probebetrieb für den fahrerlosen Betrieb beginnen. Zwei Jahre später haben dann über 70.000 Menschen in Hamburgs Nordosten endlich eine rasche Anbindung an die Innenstadt, so der Plan.
Wenn die über 25 Kilometer lange Trasse im Jahr 2040 fertig ist, soll sie im 90-Sekundentakt HSV-Fans zum Stadion und Studierende zum Campus bringen. Auch das Uniklinikum in Eppendorf bekommt eine Station. Hamburg rechnet damit, dass täglich etwa 315.000 Menschen die neue Linie nutzen werden.
"So ein U-Bahn-Bau ist eine Materialschlacht", sagt der leitende Bauingenieur Dirk Pastoors. Auf etwa 16 Milliarden Euro werden die Kosten geschätzt; einen Großteil finanziert der Bund. Die Pläne für eine viel billigere und ressourcenschonendere Straßenbahn ließ der frühere Bürgermeister Olaf Scholz (SPD) in der Schublade verschwinden. Immerhin kommt klinkerreduzierter Zement zum Einsatz, der das Klima weniger belastet als konventioneller Baustoff.
Dass die autonomen Züge Arbeitsplätze vernichten, fürchtet Betriebsrat Hukriede nicht. Schließlich sitze in den anderen Linien ja weiterhin jemand im Führerstand. Und Fahrlehrer Rainer Furtwängler bildet ständig neue Kolleg*innen aus. Vier Monate dauert es, dann können sie allein auf die Strecke. "U-Bahn fahren macht einfach Spaß", sagt der 61-Jährige. Allerdings sollte man in dem Beruf mit den Wechselschichten gut klarkommen. Er selbst findet es schön, während der Arbeitszeit an der Elbphilarmonie und den Landungsbrücken vorbeizugleiten oder durch grüne Schneisen zu brausen.
Viele Streckenabschnitte der seit 1912 gebauten Linien verlaufen überirdisch. 900 Menschen arbeiten gegenwärtig im U-Bahnbereich, viele von ihnen sind Quereinsteigende. Auch auf Kolleg*innen aus anderen Städten wirkt die Hamburger Hochbahn wie ein Magnet. Lohn und Arbeitszeiten haben sich nach einer harten Tarifauseinandersetzung 2020 sehr positiv entwickelt; Fachkräftemangel wie in anderen Städten gibt es bisher nicht.
Radwege – super bis katastrophal
Jan Marten genießt seinen Feierabend in einem Straßencafé. Vor etwa einem Jahr ist er nach Hamburg gezogen, fast alle Wege erledigt er mit dem Rad. Die ersten Monate wohnte er in Hamm östlich der Alster, inzwischen hat er eine Bleibe hier im beliebten Szeneviertel Ottensen gefunden. "Die Qualität der Radwege ist extrem abhängig vom Stadtteil. Von Hamm in die Innenstadt zu kommen ist eine Katastrophe, von hier aus super," so das Urteil des 28-Jährigen. Eine Weile hat er in Kopenhagen gewohnt. "Da weiß man, wie eine gute Fahrradinfrastruktur aussieht: Die Radwege sind flächendeckend breit und sicher von der Autofahrbahn getrennt."
Wie sich so etwas anfühlt, kann jeder in der Louise-Schroeder-Straße wenige Meter entfernt erleben. Dort gibt es seit vergangenem Sommer in jede Richtung einen blumengesäumten Weg, auf dem schnelle Pedalierende andere gefahrlos überholen können. Die Autos sind dagegen mit Tempo 30 auf nur einer Spur unterwegs. Was früher ein hässlicher, von Asphalt dominierter Ort war, hat sich in eine ruhige Oase verwandelt. Auch kleine Kinder radeln hier jetzt gefahrlos, das Zwitschern der Vögel ist zu hören, und viele Leute nutzen die Bänke am Straßenrand.
Auch wenn es in den vergangenen Jahren an vielen Stellen Verbesserungen der Infrastruktur gegeben hat, ist Hamburg noch weit davon entfernt, eine wirklich fahrradfreundliche Stadt zu sein. Längst nicht überall existieren eigene Spuren, und so kommt es sowohl auf den Fahrbahnen als auch auf Bürgersteigen immer wieder zu gefährlichen Zusammenstößen. Auch die App Switch, die den Nutzenden den schnellsten Weg durch die Stadt mit Bus, Bahn, Leihauto und Roller weisen soll und einen papierlosen Ticketkauf ermöglicht, hat noch Verbesserungsbedarf, weil beispielsweise Leihräder nicht integriert sind.
In den vergangenen Jahren ist es um das Thema Mobilitätswende in Hamburg stiller geworden, bedauert Busfahrer Hukriede. Die Klimakatastrophe findet in der Öffentlichkeit weniger Aufmerksamkeit, zugleich ist die Angst der Politik gewachsen, den Individualverkehr zu beschneiden. Der neue rot-grüne Hamburger Koalitionsvertrag spiegelt diesen Trend.
Dabei lässt sich die Lebensqualität durch beherztes Umsteuern steigern, wie internationale Beispiele belegen. In Paris gibt es im Zentrum mehr Grünanlagen und weniger Lärm, weil saftige Parkgebühren und mangelnde Abstellmöglichkeiten Autofahrende abschrecken. In Zürich hat die Tram immer Vorfahrt und die Anschlüsse sind gut getaktet, so dass der ÖPNV schneller ist als Privatfahrzeuge. Kopenhagen ist ein Rad-Eldorado, Tallinn in puncto Verkehrs-App und der Vernetzung verschiedener Verkehrsmittel spitze. Was zeigt: Da ist hier noch viel mehr möglich in Stadt und Land.