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Matthias Goerres ist Teamleiter Lebensräume und Referent Naturschutzpolitik beim BUNDFoto: BUND

ver.di publik: Die Klage des BUND gegen die Bundesregierung ist die weltweit erste auf Naturschutz vor einem obersten Gericht. Warum ist sie nötig?

Matthias Goerres: Die Natur ist Grundlage für unser Leben, unsere Gesundheit und unsere Ernährung – ohne die Leistungen der Natur können wir nicht existieren. Laut Grundgesetz sind das Recht auf Leben und Gesundheit unsere Grundrechte, die der Gesetzgeber hier nicht ausreichend achtet. Zudem trägt der Staat Verantwortung für den Schutz der natürlichen Lebensgrundlagen für künftige Generationen. Der nachgewiesene Verlust biologischer Vielfalt droht, die elementaren Voraussetzungen einer lebenswerten Umwelt zu zerstören. Der deutsche Gesetzgeber hat aber bislang kein umfassendes gesetzliches Schutzkonzept für die Natur geschaffen. Dazu sollen Parlament und Regierung mit der Klage verpflichtet werden.

Die bestehenden Regelungen reichen nicht aus?

Es gibt zwar rechtliche Grundlagen für Naturschutz, von der UN und EU bis zur Bundes- und Landesebene. Ein wesentlicher Teil der Gesetzgebung treibt das Artensterben und den Verlust von Ökosystemen allerdings eher voran, als sie zu bekämpfen. Nach Jahrzehnten haben wir noch immer nicht dringend benötigte Fortschritte erzielt – viele bestehende Regelungen haben weder klar definierte Ziele noch konkrete Maßnahmen. Sie sind nicht verbindlich und beinhalten viele Schlupflöcher und Ausnahmeregeln. Deshalb fordern wir das nun beim obersten Gericht ein.

Laut BUND ist die ökologische Situation bei Naturzerstörung und Artensterben noch dramatischer als beim Klimawandel. Haben Sie Zahlen oder Beispiele?

Der Klimawandel entscheidet darüber, wie wir leben. Die biologische Vielfalt entscheidet, ob wir leben. Das Artensterben hat sich in den letzten Jahren beschleunigt und hat die Tendenz, weiter zuzunehmen – ob auf dem Feld, in Wald und Moor, in Gewässern und Meeren. In Deutschland sind ein Drittel aller Tier- und Pflanzenarten gefährdet oder bereits ausgestorben. Mehr als 70 Prozent der natürlichen Lebensräume sind in einem ungünstigen oder schlechten Zustand. Klimakrise und Artensterben bedingen sich gegenseitig. Der Verlust biologischer Vielfalt hat vor allem Lebensraumzerstörung durch Landnutzungsveränderungen als Ursache, z.B. durch Flächenversiegelung und die Intensivierung der Landwirtschaft. Und wenn es artenreiche Lebensräume nicht mehr gibt, können natürliche Prozesse und Leistungen wie das Speichern von Kohlenstoff und der Rückhalt von Wasser nicht mehr erbracht werden. Uns brechen die Lebensgrundlagen weg und die Natur kann nicht mehr so regulierend zur Abmilderung der Klimakrise beitragen, wie sie das eigentlich tun würde.

Zum Beispie l ?

Zum Beispiel Moore: Durch die Trockenlegung der Moore – wie in Deutschland großflächig und hauptsächlich für die Landwirtschaft getan – wurden diese Lebensräume zu CO₂-Emittenten, statt dass sie Kohlenstoff speichern. In ähnlicher Weise gilt dies auch für Wälder: Das "Waldsterben" liegt nicht nur darin begründet, dass plötzlich der Borkenkäfer da war und sich massiv ausbreitete – wie das oft medial dargestellt wird. Sondern weil die Forstwirtschaft jahrzehntelang Monokulturen angepflanzt hat mit Baumarten, die gar nicht typisch für unser hiesiges Klima und vorherrschende Böden sind. Durch die sich verändernden Klimabedingungen trägt die Trockenheit dazu bei, dass die Monokulturen gegenüber einer Käferart so verwundbar sind. Mit einem Laubmischwald wäre das nicht passiert. Mit artenreichen Wäldern hätten wir noch immer einen guten Kohlenstoffspeicher. Stattdessen blicken wir nun auf einen Wald, der mehr zum Klimawandel beiträgt, als dass er dessen Folgen abmildert, weil bereits so viele Bäume abgestorben sind.

Ein Mischwald wäre auch nicht so anfällig für Waldbrände wie ein trockener Fichten- oder Kiefernwald…

In einem solchen Forst breitet sich ein Waldbrand schneller aus als er sich natürlicherweise entwickeln würde. Wenn wir einen diversen, vielfältigen Mischwald haben, mit verschiedenen Stockwerken, also mit Bäumen verschiedenen Alters und unterschiedlichen Feuchtigkeitsgraden, ist durch die Beschattung der Boden feuchter und ein Waldbrand eine Seltenheit.

Hat die Klage Aussicht auf Erfolg?

Es gibt bereits zwei andere Urteile vom BVerfG zum Thema Klimapolitik und Klimaschutz in Deutschland, die wir als BUND gewonnen haben. Das war Vorbild dieser Verfassungsbeschwerde. Dieselbe Kanzlei, die diese Verfassungsbeschwerden erfolgreich betreut hatte, ist jetzt auch wieder zuständig. Dementsprechend sind wir relativ optimistisch, dass die Klage gute Erfolgsaussichten hat.

Was können unsere Mitglieder tun, um Artenvielfalt zu unterstützen?

Es gibt viele Möglichkeiten, sich für die Biodiversität stark zu machen. Auf politischem Wege, in dem man mit Menschen ins Gespräch kommt und für das Thema sensibilisiert, Petitionen unterstützt, spendet. Zudem konkret im Praktischen, zum Beispiel auf Pestizide im eigenen Garten verzichten und durch den Einkauf von Bio-Lebensmitteln, weil für sie keine Pestizide eingesetzt werden und sie weniger Auswirkungen auf die Artenvielfalt haben.

Interview: Fanny Schmolke

Mehr Infos zur Verfassungsbeschwerde des BUND: bund.net/lebensraeume/ naturschutzklage

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