Ausgabe 05/2025
"Das Regime fürchtet ihre Stimmen"

ver.di publik: Im September 2022 wurde Jina Mahsa Amini von der iranischen Sittenpolizei verhaftet, weil sie angeblich ihr Kopftuch falsch getragen hat. Sie starb kurz darauf in Polizeigewahrsam. Ihr Tod löste die Bewegung "Frau, Leben, Freiheit" aus, die das System der Zwangsverschleierung und die Unterdrückung der Frauen im Iran offen infrage stellte. Wie wurde daraus eine das ganze Land ergreifende Bewegung?
Reza Ataei: Die Proteste nahmen vor allem nach der Beerdigung von Jina richtig Fahrt auf. Bei ihrer Beisetzung spielten kurdische Frauenaktivistinnen eine sehr wichtige Rolle dabei, dass die Trauerfeier zu einer politischen Demonstration wurde. Von dort breitete sich die Bewegung weiter aus.
Du hast dich selbst in dieser Bewegung engagiert. Auch du wurdest deshalb inhaftiert und gefoltert. Wie kam es dazu?
Ich war Teil einer Gruppe in der Stadt Ghazvin, "die kämpferische Jugend von Ghazvin". Überall im Land gründeten sich kleine Gruppen, um Proteste zu organisieren, Verletzte zu versorgen und die Bewegung am Leben zu halten. Dann wurde ich drei Tage, bevor sich Jinas Tod jährte, zu Hause festgenommen. Zwölf Männer stürmten meine Wohnung, zwei verschiedene Geheimdienste waren beteiligt. Zuerst wusste meine Familie gar nicht, wo ich war – sie dachten, ich sei entführt worden, und gingen zur Polizei. Erst nach 48 Stunden erhielten sie die Information, dass ich in Gewahrsam war.

Was wurde dir vorgeworfen?
Zunächst lauteten die Anklagepunkte auf "Gefährdung der öffentlichen Sicherheit" und "Teilnahme an illegalen Versammlungen". Später wurde die Liste ausgeweitet, unter anderem auf "Beleidigung des Obersten Führers". Als ich bei einem Verhör sagte, dass ich Kurde bin, wurden aus vier plötzlich neun Anklagepunkte. Mir wurde sogar damit gedroht, dass mir eine Anklage wegen "Korruption auf Erden" und "Krieg gegen Gott" droht – darauf hätte die Todesstrafe gestanden.
Was hast du in der Haft erlebt?
Ich war 25 Tage in Einzelhaft und 26 Tage im "normalen" Trakt des Gefängnisses, also insgesamt 51 Tage inhaftiert. Isolationshaft ist eine Form massiver psychischer Folter. Du bist allein, darfst mit niemandem sprechen, wirst bedroht – auch mit Gewalt gegen deine Familie und Freunde und meine damalige Partnerin. Dazu kam körperliche Gewalt: Sie haben mich geprügelt, ab der Hüfte bis zu den Beinen war ich übersäht von blauen Flecken.
Wie bist du schließlich wieder freigekommen und aus dem Iran entkommen?
Meine Freilassung wurde an eine hohe Kaution gebunden. Meine Familie musste alles aufbringen, was sie hatte. Aber ich wusste, sie würden mich wieder festnehmen. Also floh ich in die Türkei. Dort lebte ich ein Jahr und vier Monate, bekam aber keinen Schutzstatus und war immer noch bedroht. Über die Menschenrechtsaktivistin Mina Khani – die bei Menschenrechtsorganisationen wie Hawar.help und Hengaw arbeitet, wurde mein Fall beim Auswärtigen Amt in Deutschland eingereicht. So erhielt ich ein humanitäres Visum und konnte vor sieben Monaten nach Deutschland kommen.
Du bist Mitglied der Crisis Convergence Group und warnst aktuell vor den drohenden Hinrichtungen von Sharifeh Mohammadi, Verisheh Moradi und Pakhshan Azizi. Alle drei sind Aktivistinnen und wegen ihres Engagements zum Tode verurteilt. Warum stehen gerade diese drei Frauen im Visier?
Die Fälle sind unterschiedlich, aber sie stehen sinnbildlich für mehrere Dinge zugleich: Frauen, die sichtbar aktiv sind, kurdische Identität und vor allem die Fähigkeit, Menschen zu organisieren. Bei Pakhshan Azizi und Verisheh Moradi reicht es dem Regime schon, dass sie kurdische Frauen und Aktivistinnen sind. Bei Sharifeh Mohammadi ist der Kern gewerkschaftlich: Sie ist Ingenieurin und Arbeitsrechtsaktivistin. Genau diese Verbindung von Frauenrechten, Minderheitenrechten und Arbeiter*innen-Organisierung macht die drei zu Zielscheiben.
Was wird der Gewerkschafterin Sharifeh Mohammadi konkret vorgeworfen?
Offiziell "bewaffnete Rebellion" und angebliche Verbindungen zu kurdischen Gruppen – Konstruktionen, die jede unabhängige Arbeiter*innen-Organisierung diskreditieren sollen. Sharifeh war in Arbeitskomitees aktiv, also in Strukturen, die jenseits der staatlich kontrollierten Verbände arbeiten. Der Staat duldet nur Organisationen, die er selbst gegründet hat, um Beschäftigte zu kontrollieren. Alles, was nach unabhängiger Gewerkschaft aussieht – sei es Treffen, Streikunterstützung oder sogar eine Telegram-Gruppe zur Koordination – wird kriminalisiert.
Gibt es im Iran überhaupt offizielle Gewerkschaften?
Es gibt staatlich gelenkte Verbände. Echte, unabhängige Gewerkschaften sind nicht zugelassen. Wer versucht, sich unabhängig zu organisieren, riskiert Festnahme, Schauprozesse und schwere Strafen. Das gilt nicht nur für Industriearbeiter*innen – auch die Lehrer*innenbewegung ist seit Jahren Ziel von Repression, weil sie Studierende, Beschäftigte und Zivilgesellschaft verbindet.
Siehst du eine neue Eskalation gegen politische Aktivistinnen?
Ja. Der systematische Angriff auf Frauen ist Teil der Identität dieses Regimes. Nach Frau, Leben, Freiheit reagiert es mit einer neuen Härte: Wenn es dem Staat gelingt, politische Aktivistinnen – zumal Gewerkschafterinnen – hinzurichten, setzt das ein Signal der Einschüchterung gegen jede Form von Organisierung.
"Die Frauen ermutigen andere Gefangene und machen klar: Unser Engagement für Frauen- und Arbeiter*innenrechte endet nicht an der Gefängnismauer."
Mohammad Reza Ataei, Menschenrechtsaktivist
Was erfahrt ihr über die Situation der Frauen im Gefängnis?
Viele sitzen in Einzelhaft, werden psychisch und physisch unter Druck gesetzt und zu erzwungenen Geständnissen vor Kamera gedrängt. Dennoch: Die Frauen sind nicht nur Opfer. Sie wehren sich. Trotz Isolation und Druck halten sie Kontakt zur Außenwelt, lassen über Anwält*innen und Familien Briefe und Botschaften hinausgeben und dokumentieren Folter und Verfahrensfehler. Sie widerrufen erzwungene Geständnisse, benennen die Methoden, mit denen diese produziert werden, und bestehen auf rechtsstaatliche Verfahren. Sie ermutigen andere Gefangene und machen klar: Unser Engagement für Frauen- und Arbeiter*innenrechte endet nicht an der Gefängnismauer. Genau deshalb fürchtet das Regime ihre Stimmen."
Welche Forderungen habt ihr an die Gewerkschaften hier?
Erstens: Öffentliche Erklärungen gegen die Hinrichtungen und für die sofortige Aufhebung der Urteile. Zweitens: Koordination mit anderen Gewerkschaften international, damit klar ist: Das sind unsere Kolleginnen – eine Arbeitsrechtsaktivistin, eine Sozialarbeiterin, eine Frauenrechtsaktivistin. Drittens: Sichtbarkeit schaffen – Aktionen, Resolutionen, Veranstaltungen, Druck auf politische Entscheidungsträger. Internationale Öffentlichkeit hat in der Vergangenheit Hinrichtungen verzögert oder verhindert. Garantien gibt es zwar nie, aber Druck wirkt.