Die Umverteilung von Arbeit ist möglich - aber nicht allein durch gewerkschaftliche Tarifpolitik. Eine Streitschrift gegen linke Denkfaulheit in der Arbeitszeitfrage

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Die 30-Stunden-Woche ist zur politischen Utopie eines Teils der (Gewerkschafts-)Linken geworden. Einer der prominenten Fürsprecher, Professor Mohssen Massarat, Wirtschaftswissenschaftler an der Universität Osnabrück, plädiert schon seit Jahren für die 30-Stunden-Woche. In seinen Vorträgen weist er nach, dass weit reichende lineare Arbeitszeitverkürzungen durchaus finanzierbar sind. Die sprunghaft gestiegene Produktivität ermögliche locker kürzere Arbeitszeiten - ohne Wohlstandsverluste für die Beschäftigten. Außerdem, argumentiert er, stärke die Verknappung der Ware Arbeitskraft die Verhandlungsposition der Gewerkschaften und führe zum Abbau von Arbeitslosigkeit. Der 35-Stunden-Woche müsse nun endlich die 30-Stunden-Woche folgen.

Können die Gewerkschaften den Kampf um die 35-Stunden-Woche in den 80er Jahren des letzten Jahrhunderts heute wieder aufgreifen und bis zur 30-Stunden-Woche vorantreiben? Jörg Wiedemuth, Leiter der Abteilung Tarifpolitik beim ver.di-Bundesvorstand in Berlin, ist skeptisch. Er sieht die Gewerkschaftsbewegung in der Defensive. Die Forderung nach Umverteilung der Arbeit durch Arbeitszeitverkürzung - in welcher Form auch immer - verliere an Boden. Real gehe es eher in Richtung längerer Arbeitszeiten. Die wenigen noch bestehenden Inseln der 35-Stunden-Woche seien bedroht durch die Angriffe der Arbeitgeber.

Wiedemuth sieht aus der Defensive heraus keine gewerkschaftliche Basis für weitere, flächendeckende Arbeitszeitverkürzungen. "Wer die 30-Stunden-Woche wieder auf die Tagesordnung setzen will, sollte zumindest andeuten, wie dafür eine mobilisierungsfähige Mehrheit entstehen könnte", schreibt er im ver.di-Diskussionsportal www.perspektiven.verdi.de. Seine Hoffnung ist bescheidener: Der arbeitszeitpolitische Roll-back möge gestoppt und die Beschäftigten sich der Zumutung permanenter Mehrarbeit bewusst werden. Immer mehr Menschen sollten sich gegen ungünstige, familienfeindliche Arbeitszeiten am Abend und am Wochenende wehren und das Bedürfnis nach geschlechtergerechter Arbeitszeitverteilung solle wachsen. Die 30-Stunden-Woche, das neue Heiligtum traditionsbewusster linker Gewerkschafter - ade, zurzeit keine Chance.

Die Verbreitung der 35-Stunden-Woche ist nicht nur an den Arbeitgebern gescheitert

Wiedemuths Analyse lässt sich zuspitzen. Die Strategie der einheitlichen Wochenarbeitszeitverkürzung ist etwa Mitte der 90er Jahre an eine Grenze gestoßen - nicht nur wegen der Massenarbeitslosigkeit und des ungünstigeren Kräfteverhältnisses. Auch die Lebensentwürfe und Zeitbedürfnisse der Beschäftigten haben sich von der Strategie einheitlicher Wochenarbeitszeitverkürzung zunehmend entfernt. Die Verallgemeinerung der 35-Stunden-Woche auf alle Branchen ist nicht nur an den Arbeitgebern gescheitert, sondern auch am Loyalitätsverlust unter den Beschäftigten, die mit ihren unterschiedlichen Lebens- und Arbeitsverhältnissen eher individuell zugeschnittene Arbeitszeitregelungen brauchen als ein für alle einheitliches Arbeitszeitschema.

Das heißt nicht, dass die bisherigen Arbeitszeitverkürzungen - wenn sie einmal durchgesetzt waren - nicht angenommen wurden, ganz im Gegenteil: Die Beschäftigten im öffentlichen Dienst haben ihre 38,5-Stunden-Woche im Tarifkonflikt 2006 erbittert verteidigt, weil sie genau wussten, dass jede Arbeitszeitverlängerung von den Arbeitgebern eins zu eins in Stellenabbau umgesetzt würde. Aber würden sie sich in gleicher Weise mobilisieren lassen für eine Arbeitszeitverkürzung - sagen wir - auf 37 oder 36 Wochenstunden? Wohl kaum, denn sie verbinden damit nicht mehr Freizeit, mehr Geschlechtergerechtigkeit, weniger Zeitkonflikte, sondern mehr Arbeitsverdichtung, mehr Stress, womöglich auch Einkommensverzicht.

Die Alltagskonflikte sind geblieben

Hat sich damit die Annahme erledigt, durch Arbeitszeitverkürzung könne die vorhandene gesellschaftliche Arbeit auf mehr Menschen verteilt und Arbeitslosigkeit abgebaut werden? Ist das Anliegen, ein ausgewogenes, unter den Geschlechtern gerecht (oder zumindest gerechter) verteiltes Verhältnis von Erwerbs- und Familienarbeit zu schaffen, von der Tagesordnung abgesetzt? Im Gegenteil. All dies ist höchst aktuell, und die konkreten Alltagskonflikte der Menschen resultieren zu einem großen Teil daraus, dass Erwerbsarbeit nach wie vor zwischen den Geschlechtern, zwischen Arbeitenden und Arbeitslosen ungleich verteilt ist und die Menschen keine Möglichkeit sehen, die Bedingungen ihrer Erwerbsarbeit entsprechend ihrer Lebenssituation individuell zu gestalten.

Es gibt zaghafte Schritte, individuelle Optionen auf Verkürzung bzw. zeitweilige Freistellung von der Erwerbsarbeit zu eröffnen und damit zugleich bisher nahezu unlösbare Konflikte zwischen Erwerbs- und Familienarbeit zu entschärfen. Das Elterngeld funktioniert - entsprechend (erfolgreichen) skandinavischen Vorbildern - faktisch als Lohnersatzleistung bei einem zeitweiligen (vollständigen oder teilweisen) Ausstieg aus der Erwerbsarbeit.

Damit sind zwei grundsätzliche Probleme gelöst:

  • erstens ist das Rückkehrrecht gewährleistet,
  • zweitens gibt es für die Zeit reduzierter Erwerbsarbeit eine finanzielle Absicherung, die gerade dann am nötigsten ist, wenn mit der Geburt eines Kindes die finanziellen Belastungen steigen.

Gleichzeitig aber mit dieser Konflikt entlastenden Option für die einzelnen Beschäftigten wird dem Arbeitsmarkt durch die Freistellung Arbeitskraft entzogen, werden Stellen für Vertretungskräfte frei, gibt es einen verstärkten Sog hinein in den Erwerbssektor.

Von Dänemark lernen

Zaghaft ist dieser Schritt, weil er beschränkt ist auf eine spezifische Lebenssituation, auf die Zeit nach der Geburt eines Kindes. Notwendig und möglich ist eine Ausweitung der Freistellungsoption, etwa als alle paar Jahre sich erneuernde Option für Kinderbetreuung (z.B. wenn Eltern während der Pubertät ihrer Kinder wieder verstärkt gefordert sind), oder im Sinne einer Ausweitung der Freistellungskriterien. In Dänemark wurde 1994 angesichts einer Arbeitslosenquote von etwa zwölf Prozent das so genannte "Urlaubsgesetz" verabschiedet, das Beschäftigten Freistellungsoptionen für ein Jahr bei Kindererziehung, Fortbildung oder auch ohne jede Zweckbindung eröffnete.

Diese Optionen für einen zeitweiligen - ganzen oder teilweisen - Ausstieg aus der Erwerbsarbeit können individuell und kollektiv (tariflich geregelt) wahrgenommen werden. Sie wurden und werden massenhaft angenommen, weil sie elementaren Bedürfnissen der Menschen (auch der Männer) einen Raum eröffnen, der vorher unter dem rigiden Zeitregime ununterbrochener Erwerbsarbeit nicht vorhanden war.

Gleichzeitig wurde diese Form selbst gewählter "Erwerbsarbeitslosigkeit" dank der arbeits- und sozialrechtlichen Absicherung nicht als ausgrenzende Arbeitslosigkeit empfunden, sondern als Chance zur Verbesserung der Lebensqualität. In wenigen Jahren ist die unfreiwillige Arbeitslosigkeit in Dänemark auf den heutigen, niedrigen Stand zwischen vier und sechs Prozent gesunken. Die massenhafte Freistellung von Erwerbstätigen bewirkte auf dem Arbeitsmarkt tatsächlich eine Arbeitsumverteilung, die Arbeitslosen zugute kam. Unfreiwillige Arbeitslosigkeit wurde verwandelt in eine freiwillige Option auf Lebenszeit außerhalb der Zwänge des Erwerbssektors.

Der Abbau von Arbeitslosigkeit vollzog sich dabei in der Regel nicht durch direkte Einstellung von zuvor arbeitslosen Vertretungskräften, sondern als Ergebnis von komplexeren Umdispositionen innerbetrieblicher Personalpolitik. Gleichzeitig löste das Urlaubsgesetz einen Fortbildungsboom aus, weil Beschäftigte und Arbeitgeber auf Basis des Gesetzes weitreichende Freistellungen zwecks Qualifizierung verabreden können, ohne dass für die eine oder andere Seite größere Nachteile entstehen. Das Urlaubsgesetz hat die Freistellungen aus dem Verteilungskonflikt zwischen Arbeitgebern und Arbeitnehmern herausgenommen und damit eine ganz wesentliche Barriere für die massenhafte Wahrnehmung der Freistellungen beseitigt. Es hat gleichzeitig die Räume geöffnet für eine massenhafte Qualifizierung des gesellschaftlichen Arbeitskräftepotenzials.

Welche Schlussfolgerungen ergeben sich?

Arbeitsumverteilung durch Arbeitszeitverkürzung ist möglich, aber nicht durch schematische Verlängerung des Kampfs um Wochenarbeitszeitverkürzung bis zur 30-Stunden-Woche, sondern durch verbesserte gesetzliche Rahmenbedingungen für individuelle und kollektive Freistellungsoptionen.

Der Kampf gegen Arbeitslosigkeit darf nicht bei den Arbeitslosen ansetzen, sondern bei den Beschäftigten. Nicht die Arbeitslosen müssen durch Repression oder finanzielle Strafandrohung in den Erwerbssektor hineingepresst werden (was ohnehin nicht funktioniert), sondern den Erwerbstätigen müssen arbeits- und sozialrechtlich abgesicherte, attraktive Freistellungsoptionen eröffnet werden.

Der Verteilungskonflikt zwischen Beschäftigten und Arbeitgebern steht großen Schritten der Arbeitszeitreduzierung und -umverteilung entgegen. Staatliche Transferleistungen wie in den skandinavischen Ländern können diesen Konflikt entschärfen und die Spielräume für reale Arbeitsumverteilung erweitern.

Der Abbau von Arbeitslosigkeit, dies ist das ernüchternde Ergebnis, ist allein durch den gewerkschaftlichen Kampf um tarifliche Arbeitszeitverkürzung nicht zu schaffen. Notwendig ist gleichzeitig der politische Kampf um die Veränderung gesetzlicher Rahmenbedingungen in der Arbeitswelt - also eine die persönlichen Arbeitszeitbedürfnisse der Menschen unterstützende Gesellschaftspolitik. Das Elterngeld ist ein Anfang, hoffentlich nicht das Ende.

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