Mein Stuhl ist schöner als deiner

Karl Lauterbach: Der Zweiklassenstaat

Wer in Deutschland in die unteren Schichten hineingeboren wird, hat lebenslang keine Chance mehr. Die Armen werden stets benachteiligt. Der Untertitel des kämpferischen Buchs ist genauso programmatisch: "Wie die Privilegierten Deutschland ruinieren". Der Kölner Professor für Gesundheitsökonomie, früher langjähriger Berater von ver.di, sitzt für die SPD im Bundestag, doch werden weder die Sozialdemokraten noch die Union erwähnt. Lauterbach geht es um langfristige Strukturen, nicht um das kleinteilige Hickhack zwischen den Parteien. Er will zeigen, wie die deutschen Eliten subtil und doch systematisch die ärmeren Schichten ausplündern. Es beginnt bei der Bildung: 84 Prozent aller Beamtenkinder besuchen das Gymnasium, aber nur zwölf Prozent der Arbeiterkinder nehmen ein Studium auf. Das liegt nicht an den Genen, wie Schweden zeigt, wo die Arbeiterkinder fast so erfolgreich sind wie der Akademiker-Nachwuchs. Lauterbach will daher das dreigliedrige Schulsystem durch eine Gemeinschaftsschule ersetzen: "Solange es Hauptschulen gibt, müssen sie gefüllt werden. Es ist klar, dass dies nicht die Kinder der privilegierten Eltern besorgen müssen." Bei der Gesundheitsversorgung geht es weiter: Es ist sehr unwahrscheinlich, dass ein AOK-Kassenpatient bei einer schweren Krebserkrankung von einem Uni-Spezialisten behandelt wird. Privatpatienten hingegen können sich häufig sogar von mehreren Koryphäen untersuchen lassen. Auch bei der Rente finanzieren die Armen die Reichen, weil die untersten Schichten rund acht Jahre früher sterben als die Eliten. Und in der Pflege? Ausgerechnet die Begüterten müssen nur die Hälfte für ihre Pflegeversicherung zahlen, weil sie sich privat absichern und damit der Solidarität entziehen können. Für sie stehen dann hotelartige Edelheime zur Verfügung, während sich der große Rest mit der Massen-Abfertigung begnügen muss. Erste Untersuchungen ergaben, dass 41 Prozent der Heimbewohner nicht richtig ernährt und nicht vor chronischem Verdursten geschützt werden. Diese massive Benachteiligung der untersten Schichten ist für Lauterbach nicht nur eine Gerechtigkeitsfrage. Deutschland könnte auch seine Wettbewerbsfähigkeit einbüßen. So haben die deutschen Ärzte in der medizinischen Forschung längst den Anschluss verloren. Und angesichts der Bildungsmisere könnten künftig nicht mehr genug Talente zur Verfügung stehen, um Exportweltmeister zu bleiben. Es ist Lauterbach anzumerken, dass die Katastrophe seine einzige Hoffnung ist. Denn ohne Zwang werden die Eliten nicht auf ihre Privilegien verzichten.

ULRIKE HERRMANN ROWOHLT VERLAG, 224 S., € 14,90


Horst Petri: Bloß nicht zu viel Liebe

Verwirrt zwischen Rabenmutter- und Gebärmaschinenrolle suchen gestresste Eltern nach Ratgebern, um ihre Sprösslinge zu erziehen. To-do- und Checklisten, Plattitüden und Patentrezepte täuschen vor, dass Familie nach Rezepten funktioniert, Machbarkeit und Effizienz können angeblich dort herrschen, wo subtilste Beziehungsgeflechte wachsen. Wie wohltuend ist es da, wenn ein lebenserfahrener Mensch wie der emeritierte Professor für Psychotherapie und Psychosomatik an der FU Berlin und Arzt für Kinder- und Jugendpsychiatrie Horst Petri ein Buch über das Glück und die Gefahren der Liebe zwischen Eltern und Kindern schreibt. Und dabei diese lebenslang unauflösliche Beziehung mit alltagsnahen Beispielen aus seiner therapeutischen Praxis ebenso einfühlsam illustriert, wie er hiesige Debatten einordnet. "Die Utopie einer heilen Kindheit (...) ist eine Erfahrung der jüngsten Geschichte in den demokratisch zivilisierten Gesellschaften besonders Westeuropas." Petri macht keine Vorschriften und gibt keine Ratschläge, aber nach der Lektüre ist man gelassener, etwas klüger und jedenfalls realistischer. Horst Petri: "Wir bleiben mit der Tatsache konfrontiert, dass die Möglichkeiten der Familie, für alle Mitglieder eine dauerhafte Zufriedenheit und psychische Stabilität zu garantieren, äußerst begrenzt sind." Eltern, weiß Petri, sollten ihr Glück und ihre Zufriedenheit nicht von ihren Kindern abhängig machen. Gelungen ist eine Beziehung dann, wenn alle dabei ihre Freiheit bewahren.U.L.

KREUZ VERLAG, 235 S., 19,95 €