Ingrid Schmidt ist Präsidentin des Bundesarbeitsgerichts in Erfurt. Eine Frau, die es liebt, Fälle nicht nach "Schema F" lösen zu müssen und keine Angst hat vor der spröden Materie Arbeitsrecht

"Ich frage mich lieber fünf Mal, ob ich alles sauber abgeleitet habe"

1974 im südhessischen Bürstadt, Ingrid Schmidt hat gerade ihr Abitur bestanden. Sie denkt über ihre Zukunft nach. Was soll sie studieren? Naturwissenschaften scheiden aus, ihr Gymnasium hatte diesen Schwerpunkt. Sprachen sollen es auch nicht sein, die liegen ihr nicht. Politik und Sozialwissenschaften? Sie will irgendwann von ihrem Abschluss leben können. Also schreibt sie sich für Jura ein. "Das war anfangs nicht so prickelnd", erinnert sie sich. Doch mit der Zeit gewinnt sie Spaß daran, mit abstraktem Recht konkrete Fälle zu lösen. Und sie bringt es weit: Ingrid Schmidt ist seit zweieinhalb Jahren Präsidentin des Bundesarbeitsgerichts (BAG) in Erfurt, die erste Frau an der Spitze dieser Behörde.

"Rechte Zeit, rechter Ort, rechte Person", umschreibt die heute 51-Jährige ihre Karriere. Sagt man Quotenfrau, trifft sie das nicht. "Klar bin ich eine, bei einem Frauenanteil von 14 Prozent am BAG."

Aber Ingrid Schmidt weiß auch um ihre Qualitäten: Sie arbeite effizient, Zeitverschwendung sei ihr ein Gräuel. Sie leite ihre Urteile sauber ab, mache Rechtssprechung transparent. Und: Sie macht sie auch verständlich, spricht in einer klaren Sprache, ist bodenständig. Ingrid Schmidt ist pragmatisch. Gegenüber ihrem Schreibtisch hängen drei bunte Bilder. "Wenn Sie wissen wollen, was das ist, muss ich nachsehen. Ich habe sie hängen lassen, als ich das Büro übernommen habe. Ich erfreue mich einfach an den bunten Farben." Wichtiger ist ihr die Kinderzeichnung hinter dem Schreibtisch. Ein Werk ihrer Tochter aus Kindergartenzeiten. Ingrid Schmidt sagt von sich, dass sie als Privatmensch viel emotionaler sei. Und wenn sie überraschend laut los lacht, glaubt man es ihr auch sofort.

Ihr Weg an die Spitze des höchsten deutschen Arbeitsgerichts verläuft nicht gradlinig. An der Universität in Frankfurt am Main wecken zwei Professoren mit anschaulichen Vorlesungen ihr Interesse für das Rechtsgebiet. In Deutschland gibt es kein festgeschriebenes Arbeitsrecht, das Grundgesetz gibt die Leitplanken vor. "Hier ist mit ,Schema F' nicht viel zu machen", sagt Ingrid Schmidt. Ein Fakt, der ihr bis heute entgegen kommt. Sie kann - in Zusammenarbeit mit den Richtern des Senats - individuelle Lösungen suchen.

Sie wollte einen Beruf - und Kinder

Klar war, dass sie Richterin werden will. Unabhängigkeit, keiner redet einem bei Entscheidungen rein, man hat selbst die Verantwortung, wie man die Arbeit organisiert - all das fasziniert sie. Und noch heute schätzt sie diese Eigenschaften an ihrem Beruf.

Doch es gibt einen weiteren Grund. Als Richterin, so dachte sie schon Mitte der achtziger Jahre, sind Familie und Beruf vereinbar. Als 1989 und 1993 ihre Kinder geboren werden, bestätigt sich auch das. "Eine Karriere entscheidet sich nicht nach Überstunden", sagt sie, und hat damit ihren Weg gemacht.

1985 aber landet sie erst einmal am Sozialgericht in Wiesbaden, eine andere Stelle war nicht frei. Eine Herausforderung für sie, neue Verfahrensarten und große Summen, die sie bewegt, zum Beispiel wenn sie über die Zahlung von Renten entscheiden musste. Sie fuchst sich ein, begeistert sich für die Materie.

Anfang der neunziger Jahre die nächste Herausforderung: die Abordnung als wissenschaftliche Mitarbeiterin ans Bundesverfassungsgericht. "Anfangs fragte ich mich schon, worauf hast du dich da eingelassen." Doch auch hier arbeitet sich die Juristin ein, erweitert ihren Horizont. "Ich kann nicht auf einem Stand stehen bleiben." Aus diesem Grund stimmt sie auch zu, als 1994 der Ruf an das Bundesarbeitgericht kam. Elf Jahre später, als sie dessen Präsidentin werden soll, muss sie schon länger nachdenken. "Ich bin nicht in die Gerichtsbarkeit gegangen, um Verwaltungsarbeit zu machen." Doch die Mischung stimmt in Erfurt.

Die Gerichtsverhandlungen seien am BAG eher nüchtern, sagt Ingrid Schmidt. Die Zeugen sind bereits in den unteren Instanzen gehört worden, der Sachverhalt ist klar. Jetzt geht es um die juristische Bewertung. Gemeinsam mit ihren vier Richterkollegen - zwei haupt- und zwei ehrenamtlichen - diskutiert sie auf Augenhöhe. Für das Urteil wird eine Mehrheit gebraucht, ihre Stimme zählt genauso viel wie die der anderen Richter.

"Wir müssen aber immer im Blick haben, was das Urteil auslöst", sagt Ingrid Schmidt. Was das Bundesarbeitsgericht entscheidet, wird von den unteren Instanzen für deren Urteile herangezogen. "Wir können unsere Entscheidungen nicht einfach korrigieren, wenn wir merken, dass wir falsch gelegen haben." Möglich wäre dies nur, wenn erneut ein ähnlich gelagerter Fall vor die oberste Instanz kommt. Das kann dauern. Doch Ingrid Schmidt will vorab alle Konsequenzen durchdacht haben. Sie will für eine Linie stehen, ihre Rechtssprechung soll Kontinuität haben.

Entscheidungen transparent machen

Ingrid Schmidts Anspruch ist es, der unterlegenen Partei ins Gesicht sehen zu können. Ihr transparent zu machen, warum die Entscheidung so gefällt worden ist und nicht anders. Vor ihrem Senat stehen häufig Fälle an, die von den Arbeitgebern auf der einen und Gewerkschaften auf der anderen Seite unterstützt werden. Deren Kritik stört sie nicht: "Das sind Lobbyisten, das ist typisches Verbandsdenken, das muss so sein."

"Meine größte Kritikerin bin ich selbst", sagt Ingrid Schmidt. Sie ringt mit sich um ihre Entscheidung, um den Weg dorthin. "Ich habe eine innere Unruhe, wenn ich weiß, dass etwas nicht rund ist. Ich frage mich lieber fünf Mal, ob ich alles sauber abgeleitet habe." Sie nimmt ihre Fälle mit in die Freizeit, die "Mühle im Kopf" nennt sie das. Das ist das einzige Mal, dass sie von einem Problem in diesem Beruf spricht. Abschalten kann sie meist nur, wenn sie "rennt". Gemeint ist die Stunde, die sie zwei Mal in der Woche mit alten Freundinnen joggt, in der sie über alles reden und ratschen.

Ein umtriebiger Mensch sei sie, sagt Ingrid Schmidt. Immer wieder Neues kennenlernen, nicht zu lange an einer Stelle bleiben, das sei ihr Prinzip. "Aber die Intervalle des Stehenbleibens werden immer länger", sagt sie scherzhaft. Deswegen ist sie sich sicher, dass sie irgendwann als Präsidentin des Bundesarbeitsgerichts in Pension gehen wird.

Ingrid Schmidt,

geboren 1955, verheiratet, zwei Kinder. Studierte Jura an der Johann-Wolfgang-Goethe-Universität in Frankfurt/Main. Arbeitete dort als wissenschaftliche Mitarbeiterin am Lehrstuhl für Privat- Verfahrensrecht und Rechtsvergleichung, anschließend als Sozialrichterin. Wechselte im August 1994 als Richterin zum Bundesarbeitsgericht. Seit dem 1. März 2005 ist sie dessen Präsidentin. Hält das deutsche Arbeitsrecht durchaus für flexibel: "Es hat die Folgen der Globalisierung schon bewältigen müssen, ehe darüber eine breite gesellschaftliche Diskussion geführt worden ist." Die Urteile zeigten, dass es sich immer wieder aktuellen Entwicklungen anpassen könne.