Detlef Hensche ist Jurist und ehemaliger Vorsitzender der IG Medien

Seit es Gewerkschaften gibt, spekulieren Chronisten über ihren Niedergang. Heute liefern die Lokführer den Stoff für Endzeit-Prophetie. Die Zukunft gehöre nicht der Einheitsgewerkschaft, sondern Minderheiten und Spezialistenorganisationen. Richtig ist: Gewerkschaftskonkurrenz bringt keinen Segen. Nur die Arbeitgeber profitieren. Deshalb lautet der erste gewerkschaftliche Auftrag, die Konkurrenz in den eigenen Reihen zu überwinden. Gelbe Verbände und Organisationen, die sich den Unternehmern durch Gefälligkeitsabschlüsse und Tarifunterbietung anbiedern, betreiben das Geschäft der Gegenseite; nicht anders als Streikbrecher. Kein Wunder, dass sich in ihrem Fall Unternehmensvorstände nicht um die Einheit Sorgen machen; hier sind sie bereit, wie unlängst Siemens, Millionen in die Spaltung zu investieren.

Anders verhält es sich mit den Berufsverbänden, die sich derzeit breiter Aufmerksamkeit erfreuen. Die Vereinigung Cockpit, der Marburger Bund oder die Gewerkschaft der Lokführer dienen sich den Unternehmern nicht als Dumping-Partner an. Sie versuchen umgekehrt, nach oben auszubrechen. Auch dies tut nicht gut. Nicht dass sie auf Kosten anderer Berufsgruppen eigene Privilegien herauszuschlagen suchen; Streckenarbeiter und Zugbegleiter erleiden keine Einbußen, wenn Lokführer besser vergütet werden. Nicht der Sondervorteil, der Sonderweg ist das Problem.

Alleingänge schaden auf Dauer allen, langfristig auch Lokführern, Ärzten und Piloten. Hier ist ein zweites gewerkschaft-liches Grundgesetz berührt: die Verbreiterung des Erfolgs. Solidarität heißt auch Verallgemeinerung und schließt ein, dass die Starken nicht nur für sich selbst kämpfen, sondern für alle. Und dass sie auch die Schwachen mitziehen.

Deshalb haben sich die Gewerkschaften befreit

aus der Enge der Berufsverbände. Zur Erinnerung: Fast alle DGB- Gewerkschaften sind aus (männlich dominierten) Berufsverbänden entstanden. Die Neugründung als Industriegewerkschaften vor 60 Jahren war ein historischer Fortschritt. Er ist nicht abgeschlossen, nach innen nicht und nicht nach außen. Die Zuständigkeit für ganze Branchen darf jedoch nicht den Blick verstellen für die Besonderheiten einzelner Sparten und Berufe. Die Nahsicht ist umso wichtiger, seitdem sich die Lebenslagen und beruflichen Bedingungen weiter ausdifferenzieren. Das erfordert Sensibilität für Eigenheiten, nicht zuletzt für die beruflichen Anforderungen. Es ist ja kein Fehler, wenn sich die Menschen mit ihrem Beruf identifizieren - sofern sie nicht vom Erwerbsleben ausgeschlossen sind; es ist gut, wenn sie in ihrer Arbeit Bestätigung gewinnen, wenn sie sich weiterentwickeln wollen, wenn sie in ihrer Kompetenz Anerkennung finden und wenn sie gerne gute Arbeit leisten wollen. Auch Berufsstolz ist keine Sünde.

Arbeit ist kein Jammertal, sollte es jedenfalls nicht sein. Die Gewerkschaften sind daher nicht nur unverzichtbare Sachwalter sozialer Mindestnormen, sondern auch kompetente Partner in Fragen guter Arbeit und zukunftsfester Beruflichkeit. Um ein Beispiel zu nennen: Die Gewerkschaften müssen nicht etwa, wie in vergangenen Zeiten, breitflächig eigene berufliche Weiterbildung organisieren. Doch Impulse geben, entsprechende Leistungen der Arbeitgeber durchsetzen und mit fachlicher Kompetenz zur Stelle sein - das ist gewiss keine Überforderung. Erst recht müssen sie auf den Plan treten, wenn Beruf und Berufsgruppen in ihrer Verantwortung nicht ernst genommen oder gar missachtet werden. Dass die Nähe zum Beruf Früchte trägt, zeigen die Erfolge von ver.di unter den Flugbegleitern.

Unabhängig davon wird es auch morgen neben den Gewerkschaften Berufsorganisationen geben, nicht nur unter Journalisten und Künstlern. Der Kreis ist überschaubar. Ein allgemeiner Trend zur berufsbezogenen Sezession ist entgegen verbreiteter Kommentierung nicht in Sicht. ver.di bringt vor allem gute Voraussetzungen mit, zu kooperieren. Das hat der letzte Streik im öffentlichen Dienst gezeigt. Im künstlerischen und journalistischen Bereich gibt es einige Beispiele, die allesamt nicht zuletzt die dezentrale Binnenstruktur in ver.di ermöglicht hat. Soweit also weiterhin Berufsverbände bestehen, ist die notwendige Einheit durch solches gemeinsames Handeln herzustellen. Auch das ist weder neu noch Hexenwerk.

Alleingänge schaden auf Dauer allen, langfristig auch Lokführern, Ärzten und Piloten