Dreizehn Jahre arbeitete Werner Heinrich beim Aufbau-Verlag, zuletzt im Archiv. Als sein Arbeitsplatz eingespart wurde, ging er vor Gericht - mit Hilfe von ver.di. Eine Prozessbeobachtung

Vorm Verlagsgebäude in Berlin-Mitte: Das traditionsreiche Unternehmen setzt auf Abbau - Personalabbau

An einem Tag im vergangenen Frühjahr ging Werner Heinrichs Chef nicht, wie sonst üblich, durch das wuchtige Sandsteinportal in die oberen Stockwerke des Berliner Aufbau-Verlags. Stattdessen nahm er den Weg durch die stählerne Brandschutztür nach unten. Vorbei an Mülltonnen und Bergen gefalteter Pappkartons gelangte er durch eine vergitterte Tür in einen großen, fensterlosen Kellerraum. Drei Jahre war es her, seit er zuletzt hier gewesen war. Damals hatte er Werner Heinrich den Auftrag gegeben, "das alles" zu ordnen. Und Heinrich war mehr als einverstanden gewesen: Was hier chaotisch durcheinander und damit schwer auffindbar lagerte, waren Schätze der Geistes- und Kulturgeschichte. Nun aber stand sein Chef an gleicher Stelle wie damals. Er müsse ihm kündigen, teilte er mit. Nicht, weil er schlecht gearbeitet habe, nein. Aber das Archiv sei für den Aufbau-Verlag nun einmal zu teuer.

Jetzt sitzt Werner Heinrich mit dem Kündigungsbrief im Wartezimmer der ver.di-Rechtsberatung. Für die bunten Broschüren im Ständer neben dem Fenster hat er keinen Blick; seit Tagen hat er kaum geschlafen. 53 Jahre ist er alt. Keiner, der sich in den Vordergrund drängt, eher ruhig und zurückhaltend, aufgewachsen in der Nähe von Potsdam, ein Brandenburger Temperament eben. Nach ein paar Minuten steht Rechtssekretär Steffen Damm in der Tür und bittet ihn mitzukommen. "Ihnen ist gekündigt worden. Erzählen Sie mal", sagt der schmale Mann mit der Silberbrille und schaut Werner Heinrich freundlich an. Der holt mehrere Klarsichthüllen aus der Tasche und legt sie ordentlich vor sich auf den Tisch. Mit knappen Worten und belegter Stimme berichtet er vom Besuch des Vorgesetzten. Ein Verlag - zumal ein so renommierter - könne doch nicht ohne Archiv auskommen; die historischen Bestände seien von außerordentlicher Bedeutung, argumentiert er. Langsam wird Werner Heinrich lebhaft. Die ersten Bücher nach dem zweiten Weltkrieg seien dort erschienen, Ursprungsausgaben von Anna Seghers und dem Struwwelpeter lägen da unten im Keller. Doch der Rechtssekretär erklärt ihm, dass diese Fragen vor Gericht leider völlig unbedeutend seien. "Zur unternehmerischen Freiheit in diesem Land gehört es, dass die Geschäftsführung auch grobe Fehlentscheidungen treffen darf", sagt der Jurist. Die Arbeitgeber müssten lediglich klar begründen, wieso der Arbeitsplatz wegfällt und wie die verbleibenden Aufgaben erledigt werden sollen.

Gütetermine im Viertelstundentakt

Steffen Damm studiert den Arbeitsvertrag und ein Zwischenzeugnis, forscht nach juristisch Verwertbarem: Seit 1994 ist Werner Heinrich im Unternehmen. Der Betriebsrat wurde ordnungsgemäß gehört. Immerhin: Im Arbeitsvertrag steht, dass Werner Heinrich auch für andere Tätigkeiten eingesetzt werden kann. Schließlich hat er früher in der Abteilung für die Umschlagsgestaltung gearbeitet, und noch heute erfasst er flink zahlreiche Manuskripte. "Der Arbeitgeber muss also vortragen, welche vergleichbaren Arbeitsplätze er in die Sozialauswahl einbezogen hat", benennt Damm einen Punkt, den er vor Gericht aufgreifen will. Auch, ob die prekäre finanzielle Lage, mit der der Geschäftsführer die Kündigung begründet hatte, tatsächlich so schwierig ist wie dargestellt, werden die beiden Männer recherchieren. "Wir reichen jetzt erst mal eine Kündigungsschutzklage ein", erklärt Damm nach einer Dreiviertelstunde. Dass sein Antrag karg formuliert und ohne Argumente sein werde, solle Werner Heinrich nicht verwundern: Jetzt sei erst einmal die andere Seite am Zug.

Sechs Wochen später im Berliner Arbeitsgericht, 9 Uhr 15. Auf der Liste neben der Tür sind Gütetermine im Viertelstundentakt verzeichnet; noch läuft eine andere Verhandlung. Der lange, schmucklose Flur des Siebziger-Jahre-Baus ist menschenleer; nur an einem Fenster steht ein Mann mit gelbem Schlips, der die gesichtslosen Hinterhofbauten zu studieren scheint. Das ist der Vertreter des Geschäftsführers, sagt Werner Heinrich seinem Rechtsbeistand. Nach ein paar Minuten gehen alle in das spartanisch eingerichtete Verhandlungszimmer: Außer einer Uhr und Informationen zum Fluchtweg gibt es hier nichts, was den Blick ablenken könnte. Als Kläger sitzen Werner Heinrich und Steffen Damm auf der linken Seite vor dem etwas erhöhten Richterpult, der Platz des Beklagten im Gericht ist rechts. Das gute Dutzend Stühle für die Öffentlichkeit bleibt leer.

Richter Werner Scheffer blättert einen Moment in einer Akte, dann blickt er die Anwesenden an. Warum Werner Heinrich denn gekündigt worden sei, will er wissen. Es müsse gespart werden, und außerdem sei die Ordnung des Archivs zum Großteil abgeschlossen, argumentiert der Mann mit dem gelben Schlips. Er wirkt angespannt und schlecht vorbereitet. Steffen Damm hält dagegen: "Erst zwanzig Prozent des Archivs sind saniert." Wie umfänglich das zu geschehen habe, sei Entscheidung der Geschäftsführung, kontert der andere mit monotoner Stimme.

"Einigungsmöglichkeit?" fragt der Richter.

"Ich kann nichts anbieten", sagt der Arbeitgebervertreter.

"Gar nichts?" Der schnauzbärtige Richter mit dem schütteren Haar klingt jetzt etwas ungeduldig. "Herr Heinrich ist schließlich seit 1994 bei Ihnen beschäftigt."

"Zwei mal 2000 brutto", kommt es jetzt zögerlich von der rechten Tischseite.

"Da geht nichts", bescheidet Damm knapp, und der Richter zückt seinen Kalender. Keine zehn Minuten hat der Termin gedauert. Jetzt hat der Aufbau-Verlag drei Wochen Zeit, seine Entscheidung zu begründen, innerhalb von weiteren drei Wochen müssen der Archivar und sein Rechtsvertreter darauf reagieren. In vier Monaten wird man sich hier wiedersehen - zum Prozess.

In den dicht an dicht stehenden Blechregalen im Keller lagern zehntausende von Bänden

Im geliebten Keller

Werner Heinrich kehrt in den Keller zurück. Warm, fast heiß ist es hier und die Luft staubtrocken. In den dicht an dicht stehenden Blechregalen lagern zehntausende von Bänden - senkrecht wie in einer Bibliothek oder waagerecht in Packpapier eingeschlagen und mit einer Nummer versehen. Das leise Brummen einer Klimaanlage erfüllt den Raum, die irgendwo anders im Haus für angenehme Temperaturen sorgt. Werner Heinrich fühlt sich wohl hier. Er hat ein Kinoplakat mit einem feist grinsenden George W. Bush hinter einer Gittertür aufgehängt und sich eine helle Lampe und zwei Schreib- tische organisiert. An dem einen hat früher einmal der Verleger Gustav Kiepenheuer gearbeitet, hat er herausgefunden und ist deshalb stolz auf das schwere Möbelstück.

"Ich will mich nicht verrückt machen, ich verdränge das alles, so gut es geht", sagt er. Zehn Stunden am Tag aber arbeitet Werner Heinrich jetzt nicht mehr - "so wie früher, als ich das Entlassungsproblem noch nicht hatte." Auf einem Tisch lagern Stapel von Neuerscheinungen, die im nächsten Monat in die Läden kommen werden. Der Archivar erfasst sie im Computer und sortiert sie in die Regale. Sobald er fertig ist, widmet er sich den Altbeständen. Bis zu 39 Angaben tippt er pro Buch in die von ihm selbst entwickelte Datenbank ein: Schließlich soll sich hier jeder irgendwann einmal schnell zurecht finden können. "Wenn ich jetzt gehen muss, war ein Großteil der Arbeit umsonst", sagt er. Es klingt resigniert.

So ziemlich jeden Abend lesen Werner Heinrich und seine Frau - Romane und Sachtitel gleichermaßen. Auch die erwachsene Tochter sei selten ohne Buch anzutreffen. Dank seines überaus guten Gedächtnisses ist Werner Heinrich über die Jahre selbst zu einer Art Archiv geworden. Schon ein Stichwort genügt, und er berichtet klar - und bei Nachfrage auch detailreich - über den Inhalt eines Werks. Als vor kurzem eine Lektorin wissen wollte, in welchem der Aufbau- Bücher bestimmte Fotos veröffentlicht worden waren - außer einem Erscheinungsdatum zwischen 1990 und 1995 konnte sie keinerlei Angaben machen -, da löste er das Problem in kurzer Zeit. Jede Woche kommen ein paar solcher Anfragen aus dem Haus, und auch Wissenschaftler, Lizenzpartner und treue Leser wünschen sich Unterstützung. Außerdem brauchen die Lektoren für zahlreiche Neuauflagen die Originale. Diese in den hunderten von Regalmetern zu finden erscheint fast aussichtslos; der Archivar aber hat zumindest immer eine Ahnung, in welchem Bord er suchen muss. Werner Heinrich, der Herr der Bücher.

Dabei führte sein Lebensweg keineswegs direkt ins Archiv. Als junger Mann erlernte er einen Beruf, der in der DDR Betriebsmess-, Steuerungs- und Regelungstechniker hieß und eine Mischung aus Elektriker, Elektroniker und Feinmechaniker war. Vor allem mit Computern und EDV hatte er dann später zu tun, und nach der Wende schulte er zum Medientechniker um - Bücher bestehen schließlich nicht nur aus Inhalten, sondern brauchen auch einen Umschlag, ein Layout, eine Druckvorlage. Als Medientechniker fing er dann auch im Aufbau-Verlag an. Und ein spröder Prozess soll nun das Ende sein?

Fristgerecht ist bei Steffen Damm im Büro ein Fax des gegnerischen Anwalts eingetroffen. Nun sammelt er zusammen mit seinem Mandanten Argumente gegen dessen Kündigung. In einer Pressemitteilung hat der Verlag vermeldet, dass er im Mai 287000 Euro mehr umgesetzt hat als im Vorjahr. "So schlecht kann es also eigentlich nicht aussehen", schlussfolgert Werner Heinrich ein bisschen ironisch. Auch seine Arbeitsplatzbeschreibung, die der Arbeitgeber formuliert hat, ist unvollständig. Häufig, wenn Not an Mann und Frau ist, tippt Werner Heinrich zwischendurch auch ganze Bücher ab. Und die neue Mediendatenbank, die die Arbeitsabläufe rationalisieren soll, existiert ebenfalls noch nicht. 17 Seiten umfasst der Schriftsatz schließlich, den Steffen Damm ans Arbeitsgericht schickt.

4. September. Endlich - der Verhandlungstermin. Werner Heinrich ist blass. Vier andere Kollegen haben zwischenzeitlich ebenfalls die Kündigung erhalten, ein Arbeitsgerichtsprozess endete bereits mit einer Abfindung. Ein paar Bewerbungen hat Werner Heinrich schon abgeschickt - halbherzig. Er möchte seinen Arbeitsplatz behalten, auch auf eine Teilzeitlösung würde er sich einlassen, hat er Damm wissen lassen. Jetzt aber will er vor allem eines: Klarheit.

Im Arbeitsgericht: Werner Heinrich mit seinem ver.di-Rechtsbeistand Steffen Damm

Die nächste Instanz übersteht er nicht

Die Tür zum Hinterzimmer geht auf - vorneweg Richter Werner Scheffer in schwarzer Robe, dahinter die zivil gekleideten Laienrichter von der Arbeitgeber- und Arbeitnehmerseite. Alle im Saal erheben sich. Der Richter senkt seine Hand, blickt jeden Anwesenden kurz an und beginnt ohne Vorrede mit der Befragung. Der Geschäftsführer des Verlags stellt die wirtschaftliche Lage als absolut dramatisch dar: Wenn nicht zwei Titel in diesem Frühjahr so gut gelaufen wären, bräuchte man sich über einzelne Entlassungen gar nicht mehr zu unterhalten. Schon mehreren Mitarbeitern sei gekündigt worden und auch auf Damms Vorschlag einer 80-Prozent-Stelle für Werner Heinrich will sich der Geschäftsführer nicht einlassen.

Richter Scheffer lässt nun durchblicken, wie er die Sache einschätzt. Selbst wenn Werner Heinrich in der ersten Instanz gewinnen sollte - wofür Einiges spreche, weil die Arbeitgeberseite mehrere Aspekte sehr unzureichend dargelegt habe - sehe er im Prinzip keine Chance, den Arbeitsplatz längerfristig zu verteidigen. "Die nächste Instanz überstehen Sie nicht", so seine freundlich, aber deutlich ausgesprochene Warnung. Die beiden Laienrichter schweigen.

Jetzt schickt Richter Scheffer alle vor die Tür - die Parteienvertreter sollen sich mit ihren Mandanten beraten. Steffen Damm und Werner Heinrich bleiben gleich hinter der Tür stehen, die gegnerische Seite verzieht sich am Ende des Gangs hinter eine Säule. Werner Heinrich wünscht sich eine Verlängerung des Arbeitsvertrags um zumindest drei Monate, Damm schlägt vor, für jedes Arbeitsjahr einen halben Bruttolohn Abfindung zu verlangen; ein bisschen nach oben gerundet wären das 15000 Euro.

Vorm Richterpult geht es nun eine Weile lang zu wie auf einem Basar. Der Verlag will so schnell wie möglich Heinrichs Lohn sparen und höchstens 10000 Euro zahlen. Schließlich einigt man sich auf rund 13000 Euro Abfindung, und auch die Verlängerung um drei Monate kann Werner Heinrich durchsetzen. Außerdem wird er ein erstklassiges Zeugnis erhalten. "Seine Arbeitsleistung ist ja wirklich sehr, sehr gut", bestätigt der Geschäftsführer und blickt Werner Heinrich jetzt geradeheraus an.

"Damit ist der Rechtsstreit beendet", diktiert Richter Scheffer der Verwaltungsangestellten, die das Verhandlungsergebnis sofort ausdruckt und den Prozessvertretern in die Hand drückt. 80 Prozent der Arbeitsgerichtsprozesse gehen so ähnlich aus, erzählt Steffen Damm seinem Mandanten beim Hinausgehen. Trotz allem wirkt Werner Heinrich nun erleichtert. Dass der Rechtssekretär so viel Abfindung raushandeln konnte, hat ihn überrascht. "Leicht wird es in meinem Alter nicht, etwas Neues zu finden", sagt er. "Aber jetzt kann ich immerhin endlich anfangen, neu zu planen."

In der Pause: Heinrich liest so oft und so viel er kann

Der ver.di-Rechtsschutz

Jedes ver.di-Mitglied genießt kostenlosen Rechtsschutz bei arbeits-, sozial- und beamtenrechtlichen Problemen. Erste Anlaufstelle sollte der ver.di-Bezirk vor Ort sein. Nach einer kurzen Einschätzung wird dort entschieden, welcher Rechtsvertreter künftig zuständig ist. Neben den 120 ver.di-Rechtssekretären können auch ihre Kollegen vom DGB-Rechtsschutz die Vertretung übernehmen. Insgesamt wurden im vergangenen Jahr 40000 ver.di-Mitglieder beraten und vor Gericht vertreten.

In den meisten Fällen müssen die Juristen aktiv werden, weil ein Mitglied von seinem Arbeitgeber eine Kündigung bekommen hat. Auch Uneinigkeiten über Lohnfragen werden häufig vor Gericht ausgetragen. Daneben sind Streitigkeiten zu Hartz IV und andere sozialrechtliche Probleme mit der Renten- oder Krankenversicherung oder nach einem Arbeitsunfall in den vergangenen Jahren immer bedeutsamer geworden. Und selbstverständlich schließt der ver.di-Rechtsschutz auch das juristische Engagement für Betriebs- und Personalräte mit ein, die von der Geschäftsführung drangsaliert werden.