Birgit Mahnkopf ist Professorin für Europ. Gesellschaftspolitik an der FHW Berlin

Zur Halbzeit der schwarz-roten Koalition auf Bundesebene versucht die SPD, sich mit marginalen Kurskorrekturen an ihrem sozialpolitischen "Modernisierungsprogramm" gegenüber einstigen Stammwählern, die sie ins Nichtwählerlager oder zur LINKEN gedrängt hat, als "soziale Kraft" in Erinnerung zu bringen. Zeitgleich entdecken Bündnis 90/Die GRÜNEN ein "soziales Gewissen". Dürfen wir dies als Zeichen dafür werten, dass sich die Architekten und Zimmerleute der Agenda 2010 für die Zeit nach dem Ende der rot-schwarzen Vernunftehe in Stellung bringen - indem sie das Ende der neoliberalen Demontage des (west)deutschen Sozialstaats einleiten?

Wohl kaum. In der Großen Koalition hat die SPD sich keineswegs darum bemüht, der unternehmerfreundlichen Politik der CDU ein "sozialdemokratisches Profil" zu geben. Bis zum Herbst hat sie in befremdlich-freundlicher Atmosphäre zusammen mit der CDU die Politik fortgesetzt, die sie mit Hilfe der GRÜNEN initiieren und mit zweifelhaftem Erfolg durchdrücken konnte: Die Kürzung des Arbeitslosengeldes; die Abschaffung des Kündigungsschutzes für kleine Betriebe bis zu zehn Beschäftigten; die Förderung des Lohndumpings durch eine Liberalisierung der Leiharbeit; die Verdrängung sozial geschützter Arbeitsverhältnisse durch eine Erleichterung von so genannten Minijobs und natürlich das "Meisterwerk" der unsäglichen Hartz IV-Reform.

Die Große Koalition musste keinen "Reform-Stau" auflösen. Sie konnte beherzt daran gehen, die dankenswerterweise von deutschen Sozialdemokraten und ihren Beratern - gleichsam als Brautgeld in die Ehe eingebrachten - Agenda-Ziele "zügig" umzusetzen. Dies geschah durch: eine Mehrwertsteuererhöhung, die kleine Einkommen überproportional belastet; die Einführung einer Rente mit 67, die einer faktischen Rentenkürzung gleichkommt; eine Unternehmenssteuerreform, die Deutschland im EU-Vergleich zu einer Steueroase macht; Einschnitte bei öffentlichen Gütern und Dienstleistungen, die darauf abzielen, Bürger/innen in die Arme privater Dienstleistungsanbieter zu treiben, wenn ein magersüchtiger Staat nur noch die Minimalversorgung garantieren kann.

Daher ist es absurd, wenn die SPD in den Medien des Linksrucks verdächtigt wird, weil sie kürzlich eine Anhebung des Arbeitslosengeldes für ältere Arbeitnehmer bewirkt hat und weil sie den halbherzigen Versuch unternimmt, einen Mindestlohn durchzusetzen. Trotz dieses (wahl-)taktischen Manövers bleibt die Agenda-Politik das einzige Projekt, mit dem die SPD der CDU/CSU im "Wettkampf der Modernisierer" um die Stimmen von "Modernisierungsgewinnern" Paroli bieten kann. Daher wird die SPD den nationalen Mindestlohn, den sie schon heute mit einer parlamentarischen Mehrheit durchsetzen könnte, nur als "Wahlkampfschlager" ins Spiel bringen. Ansonsten will und kann sie ihre Ziele nur gemeinsam mit der CDU/CSU durchsetzen.

Auch wenn sich die "Stimmung im Volk" längst gegen das neoliberale Projekt gewendet hat, steuert die deutsche Regierung das Schiff immer noch nach der "road map" der rot-grünen Vorgängerregierung. Daran ändern auch kleinere Korrekturen in der Familienpolitik wenig. In der Bildungspolitik gibt es vollmundige Ankündigungen, die Unterfinanzierung nahezu aller Bildungsinstitutionen zu korrigieren, um die Vertiefung sozialer Ungleichheit im Zugang zu weiterführender Bildung zu stoppen. Doch mehr auch nicht. In der Innenpolitik hingegen bemüht sich Minister Schäuble redlich, der bereits von seinem Vorgänger Schily eingeleiteten Aushöhlung von Bürgerrechten und Datenschutz im "Kampf gegen den Terrorismus" eins drauf zu setzen. Umweltpolitisch besticht vor allem die große Kluft zwischen den medienwirksamen Auftritten der CDU-Kanzlerin Merkel und ihres SPD-Umweltministers Gabriel auf internationalen Konferenzen und den Unterlassungssünden der großen Koalition in der Verkehrs-, der Agrar- und der Klimapolitik. So werden unter dem Druck der hiesigen Autolobby Straßennetze weiter ausgebaut, statt eine Obergrenze für den Spritverbrauch von Autos festzulegen oder das Flugbenzin zu besteuern. Und in der Außenpolitik wird fortgesetzt, was die rot-grüne Koalition schon erfolgreich betrieben hat: eine aggressive Außenwirtschaftspolitik und eine Ausweitung der militärischen Präsenz in Afghanistan, auf dem Balkan und in Afrika - gegen die Mehrheitsmeinung der Bevölkerung und gegen alle (selbst militärische) Vernunft.

Antworten auf die Gerechtigkeitslücke, die unsere Gesellschaft zerreißt, auf die sich in Folge der US-amerikanischen Immobilien- und Bankenkrise dramatisch verschärfenden weltwirtschaftlichen Krisentendenzen und auf die Anpassungskosten an die unabwendbaren Folgen des Klimawandels sind von der gegenwärtigen deutschen Regierung nicht zu erwarten. Bleibt nur die Hoffnung auf die nächste Bundestagswahl.

Antworten auf die Gerechtigkeitslücke, die die Gesellschaft zerreißt, gibt die deutsche Regierung nicht