ver.di-Kampagne für mehr Wertschätzung und bessere Bezahlung in der ambulanten Pflege

"Blutdruck" heißt das Foto, das auf den Plakaten und Flyern von ver.di zu sehen ist

Unter dem Motto "Pflege ist mehr wert" starteten Diakonie, Arbeiter- Samariter-Bund (ASB) und ver.di am 2. November ihre Kampagne für Wertschätzung und höhere Vergütung der Beschäftigten in der ambulanten Pflege. Knut Fleckenstein vom ASB, Annegrethe Stoltenberg und Stefan Rehm von der Diakonie, Ellen Paschke und Wolfgang Rose von ver.di wandten sich gegen Dumpinglöhne und forderten eine einheitliche Tarifbindung für Pflegedienste. Michael Imbusch, ambulante Pflegekraft und Betriebsrat, warf bei der Auftaktveranstaltung einen kritischen Blick auf den Pflegealltag:

Ich will nicht vorrangig von der schwierigen Finanzierung der Pflege reden, auch nicht von dem Gefährdetsein der Arbeitsplätze in der schwierigen Finanzlage, sondern von den Auswirkungen auf die Arbeitsbedingungen, die sich aus der Finanzlage ergeben und Pflege zu einem Hochleistungsjob gemacht haben. Die Arbeitsbedingungen bestimmen die Lebensqualität der Pflegenden und der Gepflegten und damit einen Teil der Lebensqualität in unserer Gesellschaft. Zentral für das Gelingen einer Situation, in der zwei Menschen miteinander umgehen, ist für uns die Qualität der miteinander verbrachten Zeit.

Im Minutentakt

Die Zeiteinteilung in der ambulanten Pflege: Die Pflegerin kommt um 15 Uhr 45 in die Einrichtung. Sie nimmt ihren Plan, holt die 15 benötigten Schlüsselbunde aus dem Sicherheitsschrank, geht ihren Plan durch, steckt sich 25 Paar Untersuchungshandschuhe ein, studiert die Pflegedokumentationen auf Neuerungen und Veränderungen, fragt ihre Einsatzleitung nach Besonderheiten. Dann radelt sie los.

Fünf Minuten Weg, Kunde A: 20 Minuten. Fünf Minuten Weg, Kunde B: 25 Minuten. Fünf Minuten Weg, ... Kunde N: 20 Minuten. Fünf Minuten Weg, Kunde O: 35 Minuten. Und dann fünf Minuten für den Weg zurück in die Einrichtung. Ende 21 Uhr 49. Macht 15 Menschen in fünf Stunden und 54 Minuten Arbeitszeit. Ein realer Zeitplan aus der letzten Woche.

Was glauben Sie, mit welchem Selbstverständnis geht die Pflegerin an ihre Arbeit? Was ist für sie eigentlich Pflege? Oder anders: Was würden Sie sich wünschen oder erwarten, wie soll Sie Ihnen begegnen? Eine Windel ist eine Windel ist eine Windel und dauert drei Minuten. Man könnte das meinen, denn sie muss den Plan im Auge behalten. Um 16 Uhr 20 soll ich hier fertig sein, 16 Uhr 25: Herr B. Dauert ́s hier länger, ist Herr B. enttäuscht, denn er wartet, keine gute Anfangssituation dort. Eine Windel dauert drei Minuten.

Aber nein, sie kommt zu Ihnen herein, wünscht Ihnen einen guten Abend, stellt sich vor, nimmt Ihre Atmosphäre auf, versucht sich ihr anzupassen oder sie zu bereichern, beginnt ein Gespräch, das nicht mit "Hier sind Windel und Medikamente" beginnt, vielleicht über das Wetter, und bereitet Sie lächelnd, als wäre es nichts, auf die gemeinsam durchzustehende Pflege vor.

Das alles ist keine refinanzierte Leistung. Ihre Tätigkeit bis hier ist sozusagen wertlos. Sie erfüllt dann mit dem Pflegebedürftigen ihre Aufgaben, nimmt dabei Rücksicht auf sein Befinden, seine Beweglichkeit, seine Vorlieben. Ein nettes Wort leitet Sie aus der Pflegesituation heraus. Sie macht Ihnen das Abendbrot nach Ihren Wünschen. Während Sie essen, entschuldigt Sie sich und führt die schriftliche Dokumentation Ihrer Pflege, bevor sie sich Ihnen wieder zuwendet und den Abschied einleitet.

Als sie Ihre Wohnung verlässt, schaut sie auf die Uhr: 16 Uhr 28 Uhr, acht Minuten zu viel. Was war verkehrt? Muss sie schneller sein? Wahrscheinlich waren für Sie die Gespräche ebenso wichtig wie die gewechselte Windel, aber die werden nicht refinanziert, also weglassen? Die Zeitvorgaben sind nach den drei vorgesehenen Pflegeleistungen ausgerichtet - kleine Abendtoilette: zehn Minuten, Medikamentengabe: fünf Minuten, Zubereiten des Abendbrots: fünf Minuten.

Die geschilderte Situation ist nur die erste und eine der simpelsten von den 15, die ihr heute noch begegnen. Sie waren ja nicht dement, leidlich beweglich, essen selbstständig und benötigen keinen Katheter. Sie hat an diesem Abend noch 14 Pflegesituationen mit 14 verschiedenen Menschen, nicht auf alle trifft das zu. Auf deren Persönlichkeit und Situation geht sie ein. Ich mache es mir leicht und treffe sie erst am Ende ihrer Tour wieder. Um 22 Uhr 23, 44 Minuten nach Dienstschluss laut Plan, verlässt sie die letzte Wohnung, fährt zu ihrer Einrichtung, führt die Dokumentationen, die nicht vor Ort bei den Pflegebedürftigen aufbewahrt werden, hängt die Schlüssel in den Sicherheitsschrank, schaut sich den Plan für morgen an, ändert ihren Einsatzplan, obwohl, wie soll sie die Änderungen begründen? Damit, dass Herr G. so ist, wie er ist, und der Toilettengang bei ihm die drei Minuten sprengt? Dann fährt sie zu den Kindern nach Hause. Morgen geht's weiter.

Gottes Lohn?

Was, glauben Sie, hat diese Frau verdient? Gottes Lohn, sicher, aber wie schätzen wir, die Gesellschaft, die Leistung dieser Frau ein, wie vergüten wir sie? Muss sie schneller arbeiten? Sie bekommt im Monat 1250 Euro netto, bei 23 Arbeitstagen leistet sie 138 Pflegestunden im Monat macht 9,06 die Stunde, also 3,02 Euro für die Pflege bei Ihnen.

Die Pflegerin darf übrigens Paula genannt werden, und ich danke ihr. Aber mit Dank ist es nicht getan, ihr muss effektiv zur Seite gestanden werden von allen, die die Arbeitsbedingungen mitbestimmen. Wir in den Pflegeberufen haben in den letzten Jahren erfahren müssen, dass für uns weniger in die Waagschale geworfen wird. Wir sind aufgefordert, bis an die Grenzen unserer Gesundheit zu gehen, um uns dann noch weniger davon kaufen zu können.

Die Pflege muss neu bewertet werden unter der Maßgabe, dass sie sensible Arbeit mit Menschen ist. Schaffen wir es, dem Pflegeberuf und den in ihm Tätigen angemessen Rechnung zu tragen, kommt unsere Pflegerin vielleicht auch einmal zu Ihnen...