Die Maschen der Berlinale

Berlinale 2008 | Den deutschen Film stärken - das hat sich Berlinale-Chef Dieter Kosslick auf die Fahnen geschrieben. Profitiert haben davon ebenso namhafte, etablierte Regisseure wie Christoph Petzold, Andreas Dresen oder Oskar Röhler wie auch noch unbekannte junge Talente.

Ein geradezu sensationelles Sprungbrett bot etwa die Reihe "Perspektiven deutsches Kino" der noch an der dffb studierenden Ulrike von Ribbeck: 2004 präsentierte sie auf der Berlinale Charlotte, das Porträt einer jungen Frau, die durch die Maschen der Wohlstandsgesellschaft zu fallen droht. "Das war aufregend und einfach unglaublich", erinnert sich die 32-Jährige, "dass ich schon einen Dritt-Jahresfilm auf der Berlinale zeigen durfte, der total gut ankam." Es folgte eine rasante internationale Karriere: Sie wurde mit ihrem Erfolgsfilm nach Cannes eingeladen, dort auch für ein spezielles Förderprogramm auserkoren und präsentierte in diesem Sommer ihren ersten Langfilm Früher oder später in Locarno und Hof. Seither läuft es für die gebürtige Westfälin wie am Schnürchen, so dass sie dank Preis- und Fördergeldern auch von ihrem Beruf leben kann. Das ist keineswegs selbstverständlich.

Andere Newcomer wie Ilja Coric, Gewinner der VW Score Competition auf dem Talent Project Market der Berlinale, setzt zwar auf eine Karriere als Filmkomponist, hält sich derzeit aber noch mit Gitarrenunterricht über Wasser. Und auch die Regisseurin Sonja Heiss, deren Erstling "Hotel Very Welcome" auf der letzten Berlinale Premiere hatte, berichtet, dass sie bei der Produktion"draufgezahlt" habe. Erst der First Steps Award ermöglichte ihr ein finanzielles Polster bis zum nächsten Projekt, insofern, so Heiss, sei die "Berlinale schon sehr zuträglich".

Solche Erfolgsbiografien täuschen indes nicht darüber hinweg, dass viele Kreative der Filmbranche mehr schlecht als recht über die Runden kommen. So sind laut einer aktuellen Umfrage von ver.di und connexx.av 21 Prozent aller Mitarbeiter abhängig von Hartz IV, weitere 31 Prozent brauchten bereits eigenes Vermögen oder Erspartes auf, knapp ein Viertel würde sofort die Branche wechseln, wenn eine gleichwertige Tätigkeit vorhanden wäre, und 46 Prozent beklagen eine Verschlechterung ihrer sozialen Absicherung. Sie zu verbessern wäre auch eine dankbare Aufgabe der Berlinale: Wie wäre es mit einem Round Table zu diesem wichtigen Thema? Das wäre eine wünschenswert pragmatische Stärkung des deutschen Kinos.

Kirsten Liese

Drachenläufer | Drachenläufer ist die epische Verfilmung des gleichnamigen Bestsellers von Khaled Hosseini und erzählt die drei Jahrzehnte umspannende Geschichte eines in die USA emigrierten Schriftstellers. In San Francisco versucht er, die Sünden und dunklen Taten seiner Vergangenheit zu bewältigen. Denn die Kindheit in Afghanistan hat tiefe Spuren hinterlassen. Mit dem Sohn des Hausdieners verband ihn, den Paschtunen, trotz des Klassenunterschieds einst eine tiefe Freundschaft und die Leidenschaft für das Drachensteigen. Doch Amir wird seinen Freund verraten, ein Fehler, der ihn bis in die Gegenwart verfolgt. Regisseur Marc Forster (Monster's Ball) bringt seine Odyssee mit Feingefühl und Sinn fürs persönliche und historische Detail auf die Kinoleinwand. Er wahrt den intimen Charakter der Story, ohne dabei auf die großen emotionalen Momente zu verzichten und auf die Gepflogenheiten eines durchaus monumentalen Erzählkinos. Sehr bewegend, dieser Drachenläufer - nicht zuletzt wegen der einnehmend natürlich agierenden Kinderdarsteller.

ROBL

USA 2007; R: MARC FORSTER; D: KHALID ABDALLA, HOMAYOUN ERSHADI, ZEKIRIA EBRAHIMI; L: 122 MIN.; START 17.1.08

Verwünscht | So etwas hat es ja schon ewig nicht mehr gegeben: Ein beschwingtes musikalisches Märchen aus dem Hause Disney, das gleichermaßen modern wie im besten Sinne altmodisch ist. Hier wird das Klischee einer trällernden Trickfilmprinzessin auf die Schippe genommen, und das ohne postmodernen Zynismus. Verwünscht verzaubert tatsächlich! Was in zweiter Linie auch an der hübschen Geschichte liegt. Kurz vor der Hochzeit mit dem schönen Prinzen packt die Königin die nackte Wut. Sie entledigt sich der Zeichentrick-Prinzessin im glitzernden Gewand durch einen Fluch, der die Unerwünschte ins kantige New York der Gegenwart katapultiert. Hier weht ein anderer Wind als im Land ihrer rosa Tüllträume. Die niedlichen Animationswesen, mit denen Disney-Prinzessinnen gewöhnlich ein Duett anstimmen und ein Tänzchen wagen, stehen hier nicht zur Verfügung. New Yorks Zauberwesen sind Ratten, Tauben und Kakerlaken, die sie dennoch unbekümmert beträllert. Ihre Begegnung mit einem Scheidungsanwalt rückt ihre letzten Illusionen über die Liebe zurecht. Die Entdeckung Amy Adams meistert die Wandlung der Königstochter zur Frau aus Fleisch und Blut mit komödiantischem Feingefühl und einer Riesenportion Charme. Mit einiger Selbstironie stellt Verwünscht den Kitsch der Disneywelt auf den Prüfstand. Ein perfektes Weihnachtsmärchen und Disneys schönste Trick- und Realfilmmixtur seit Mary Poppins.

ROBL

USA 2007; R: KEVIN KIMA; D: AMY ADAMS, JAMES MARSDEN, PATRICK DEMPSEY, SUSAN SARANDON; L: 108 MIN.; KINOSTART 20.12.07

Die rote Zora | Korruption, Kinderarmut, Handelsmonopole, Arbeitsbedingungen, das waren die Themen des selbst ernannten "Berufsrevolutionärs für Gerechtigkeit", Kurt Held, die ihn Zeit seines Lebens umtrieben. Weil er unter seinem Namen im Schweizer Exil nicht publizieren durfte, gelang ihm 1941 unter dem Pseudonym Kurt Kläber mit der roten Zora sein größter literarischer Erfolg. Der zeitlose Jugendroman ist seitdem ein Dauerbrenner in den Buchhandlungen; 1979 verfilmte bereits Fritz Umgelter die Geschichte als kleine Serie. Zeitlos, weil die Missstände, die Held literarisch verarbeitet, heute genauso brisant sind wie im Kroatien der 30er Jahre. Die Bande um die rote Zora besteht auch nur aus seelisch verletzten und verarmten Kindern mit vielen Träumen. Sie haben sich in einem Küstenstädtchen ein karges Zuhause geschaffen. Die ständig bedrohten und verscheuchten Freunde behaupten ihre Unschuld gegen die Gleichgültigkeit der Erwachsenen und das kalte Gewinnstreben des lokalen Großunternehmers. Eine gemeinsame Aktion zugunsten des existentiell bedrohten Fischers führt am Ende nicht nur zum Sieg über die Gemeinheit, sondern auch zur heute wieder fälligen Einsicht: "Eine Gesellschaft, die ihre Kinder hungern lässt, gehört zuerst selbst auf die Anklagebank." Eine erfrischende Verfilmung mit toller Besetzung, die ohne Zeigefinger und modischen Jugendslang sehr gut auskommt.

JM

D/S 2007, R: Peter Kahane; D: Linn Reusse, Mario Adorf, Ben Becker, Dominque Horwitz, L.: 93 Min., Kinostart 24.1.08