Roland Linowski: Stille Erde | "Ein seltsames Volk, diese Deutschen, würden sie nicht mit ihren Gewehren im Dorf herumlaufen, könnte man denken, es wären Menschen." So sinniert ein alter Russe, als er 18 Monate lang in seinem besetzten Dorf Tichaja Semlja (Stille Erde) neben und mit deutschen Soldaten in einer seltsamen Friedenssituation lebt. Besetzte wie Besatzer "hatten gelernt, als einsichtige Feinde zu überleben". Der Autor dieses Romans ist 1941 geboren und hat das Kriegsgeschehen nicht bewusst miterlebt. Umso eindrucksvoller schildert er fiktive Begegnungen und Schicksale von zwei deutschen und russischen Familien im und um den Zweiten Weltkrieg. Nichts wird ausgelassen: Gewalt, Grausamkeit, Sex, Liebe, Humanität, Kameradschaft, Vergewaltigung, Hunger, Vertreibung, Rache. Ein großer Roman mit ganz neuen Sichtweisen, der fesselt, zu Tränen rührt, aber oft auch lachen lässt. Ohne viel Aufhebens erscheint er mitten in der Debatte um die literarische Darstellung jener Zeit, die Jonathan Littels umstrittener Roman Die Wohlgesinnten provoziert hat. Unaufdringlich ruft Linowski zur Versöhnung auf und zum Mitgefühl mit den Opfern beider Diktaturen. Und er denkt darüber nach, ob es richtig ist, dass gegenwärtig deutsche Sol- daten die Freiheit und Demokratie am Hindukusch verteidigen müssen. Ein großes Werk des in Wismar lebenden Verfassers, der schon zu DDR-Zeiten nicht kompromissbereit war, dessen frühe Erzählungen deshalb trotz seines ihm schon damals bescheinigten großen Talents nicht veröffentlicht wurden. Zurzeit wird Stille Erde von A.W. Belobratow, dem renommierten Präsidenten des Russischen Germanistenverbandes, ins Russische übertragen. Valentin M. Falin, langjähriger sowjetischer Botschafter in Deutschland, wurde durch Stille Erde zu einem durchaus kritischen Essay inspiriert, den der Verlag mit veröffentlicht hat. Ihn empört, dass ein deutscher Autor den Krieg aus russischer Sicht schildert. Doch sein Fazit ist positiv: "Ich meine, dass Stille Erde...vielen Lesern helfen kann, ihre Palette bei der Wiederherstellung des Bildes der Vergangenheit zu bereichern und, was noch wichtiger ist, ihren Gesichtskreis in den Überlegungen zur Zukunft zu erweitern."

Rolf-Jürgen Wegener

Roman, Godewind Verlag, 696 Seiten, 29,90 €


Uzodinma Iweala: Du sollst Bestie sein! | Die internationale Diskussion über den sogenannten "gescheiterten Staat" ist seit den Ereignissen in Kenia und den zunehmend ins Zwielicht geratenen Unternehmungen der privaten Kriegsindustrie weiter entbrannt. Das Hauptopfer gerät ins Bild, der Zivilist, und in neuerer Zeit auch immer wieder der Kindersoldat. Es finden sich einige Autobiographien aus Afrika am Markt, die teilweise umstritten sind. Der aus Nigeria stammende und in den USA lebende Autor Uzodinma Iweala hat nun einen Roman geschrieben, in dem dieser sozusagen "letzte Bürger" eines gescheiterten Staates zu Wort kommt, als literarische Figur. Aus der Innensicht eines zum Morden gezwungenen Jungen zeigt Iweala schonungslos, wie das Geschäft funktioniert, wie aus Angst der erste Blutrausch wird und mittels der Droge Gun-Juice eine kalte Mordmaschine. Was mit einem Menschen geschieht, der derart Bestie werden soll, lässt sich nur in der literarischen Fiktion darstellen. Dieser letzte Bürger ist kein Subjekt seiner gesellschaftlichen Wirklichkeit mehr, er ist nur noch Objekt der Verhältnisse. Sie sind zu ändern, damit wieder gelten kann: Du sollst Mensch sein.

ZÄH

ROMAN, AUS DEM ENGLISCHEN VON MARCUS INGENDAAY, AMMANN VERLAG 2008, 156 SEITEN, 18,90 €


Morton Ramsland: Ungeheuer! | Peter braucht keine Albträume, seine Realität ist der reine Horror. Seine Eltern sind so intensiv damit beschäftigt, sich zu streiten, dass sie ihn vergessen haben. Wie sie sich mit ihren Beschimpfungen und Wurfgeschossen in Monster verwandeln, hat der Illustrator Vitali Konstantinov schrecklich und komisch umgesetzt. Aber noch gelungener sind die Ungeheuer des Titels, und das müssen sie auch sein. Denn von ihrer Überzeugungskraft hängt hier alles ab. Peter hat sie erschaffen. In seinem Versteck unter der Küchenspüle hat er einen kleinen, fast niedlichen Prototyp mit Bleistift gezeichnet. Es werden mehr und sie wachsen unweigerlich, weil sie vom Streit genährt werden. Ihrem Schöpfer sind sie treu ergeben und führen seine Befehle aus. Die Eltern lernen die Angst kennen und werden dadurch zu ihrem Glück gezwungen. Als alles nach Peters Wünschen korrigiert ist, bleiben die Ungeheuer für alle Fälle im Schrank in Bereitschaft. Der dänische Autor Morten Ramsland erzählt ganz wunderbar und hoffnungsvoll von der Verwandlung einer unerträglichen Realität durch die Waffen der Fantasie.

Klix

JUGENDBUCH, BOJE VERLAG 2007, AUS DEM DÄNISCHEN VON ULRICH SONNENBERG, 32 Seiten, 12,90 €