Harald Schumann und Christiane Grefe untersuchen anhand verschiedener Szenarien die Zukunft der Globalisierung.

Eine Leseprobe

Die bei Globalisierungskritikern bekannten Journalisten Grefe und Schumann warnen vor der aufziehenden Klimakatastrophe, vor weltweiten Auseinandersetzungen um Rohstoffe und vor dramatischen Konflikten in Folge ungerechter Verteilungsverhältnisse. Aber sie haben auch überall auf der Welt Menschen aufgespürt, die versuchen, sich dem entfesselten Kapitalismus entgegenzustellen und Alternativen aufzubauen. Ohne den Widerstand zu überschätzen, rücken Grefe und Schumann diese Perspektiven ins Blickfeld. Die Autoren haben ein komplexes Thema in vielen Details recherchiert und präsentieren ihre Analysen in weitestgehend unkomplizierter Sprache. Gut möglich, dass nach dem Bestseller Die Globalisierungsfalle (1996) hier ein neues Standardwerk der Globalisierungskritik auf den Ladentisch kommt. PE

In dem ausgewählten Textauszug beschreiben die Autoren, wie europäische und US-amerikanische Konzerne wirksame Arbeitsschutzgesetze in China verhindern.

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Die rigorose Ausbeutung der Beschäftigten sei der eigentliche chinesische Wettbewerbsvorteil gegenüber dem Rest der Welt, monieren Kritiker. Westliche Politiker profilieren sich darum gerne mit entsprechenden Anklagen. Als "inakzeptabel" bezeichnet etwa Bundeskanzlerin Merkel die chinesischen Zustände und fordert, man möge bei der weiteren Verhandlung des WTO-Vertrages auch die chinesische Regierung auf die Einhaltung von sozialen Mindeststandards festlegen. Genauso möchte es die von der Demokratischen Partei gestellte Mehrheit im US-Kongress halten und hat entsprechende Beschlüsse durchgepeitscht.

Die Forderung ist zweifellos berechtigt, die Frage ist nur, an wen sie sich eigentlich richtet. Dass der chinesische Arbeitsmarkt Mindestregeln dringend braucht, ist schließlich auch Chinas Regenten längst klar. Zwar fürchten die Parteiautokraten eine von organisierten Arbeitern angeführte Demokratiebewegung wie einst die polnische Solidarnos ́c. Darum halten sie am Verbot freier Gewerkschaften fest. Aber mangels regulärer Wege, um Arbeitskonflikte auszutragen, wird Chinas Arbeitsmarkt zusehends chaotisch. Spontane Arbeitsniederlegungen und Aufstände nehmen ständig zu. Selbst nach Regierungsangaben kommt es mehr als 300000 Mal im Jahr zu Arbeitskonflikten aller Art. Insofern gleicht das moderne China den Ländern Europas im 19. Jahrhundert, wo die Ausbeutung in den schmutzigen Fabriken und der Mangel an geregelten Mechanismen zur Konfliktlösung chaotische Zustände erzeugten.

Um gegenzusteuern, wagten Premier Wen Jiabao und das Politbüro im März 2006 einen für China höchst ungewöhnlichen Schritt: Sie veröffentlichten einen Entwurf zur radikalen Reform der chinesischen Arbeitsverfassung und forderten zur öffentlichen Diskussion darüber auf. Die wachsende Unruhe "bereitet der Regierung Sorgen, weil jeden Moment ein sozialer Aufruhr ausbrechen kann", erklärte der Schanghaier Juraprofessor und Arbeitsrechtsexperte Liu Cheng das beinahe demokratisch anmutende Unterfangen.

Der Gesetzentwurf enthielt weitreichende Reformvorschläge. Demnach sollte jeder Arbeiter grundsätzlich einen Arbeitsvertrag erhalten. Wem Arbeitgeber einen solchen verweigerten, der sollte als unbefristet angestellt mit dem Recht auf einen einklagbaren Kündigungsschutz gelten. Gleichzeitig sollte Leiharbeit auf sechs Monate begrenzt werden, anschließend sollten die Unternehmen zur Übernahme in feste Anstellung verpflichtet werden. Vor allem aber sah der Entwurf eine Revolution der Betriebsverfassung vor. Bei Entlassungen von mehr als 50 Arbeitern und Veränderungen von Lohn und Arbeitsbedingungen sollte eine Zustimmung von Vertretern der staatlichen Gewerkschaften oder zumindest lokal gewählten Repräsentanten vorgeschrieben werden. "Konsens" sollte "durch Verhandlungen" erreicht werden, hieß es in dem Entwurf, der Anleihen am deutschen und schwedischen Mitbestimmungsrecht nahm. Über die bundeseigene Gesellschaft für Technische Zusammenarbeit (GTZ) engagierte der Rechtsausschuss des Volkskongresses sogar den deutschen Bundesarbeitsrichter Wolfgang Linsenmaier und den Arbeitsrechtsprofessor Wolfgang Däubler als Berater. Offensichtlich suchten die Parteiherrscher nach Möglichkeiten, die zunehmenden Arbeitskonflikte in friedliche Bahnen zu lenken, beschreibt Däubler seinen Eindruck von den Gesprächen in Peking. Vorrangig gehe es wohl darum, den von der Partei kontrollierten Staatsgewerkschaften die Aufgabe zu übertragen, den Arbeitern zu ihrem Recht zu verhelfen und so das Aufkommen einer unabhängigen Arbeiterbewegung zu verhindern.

Das Echo in der Bevölkerung war enorm. Mehr als 190000 Betroffene meldeten sich per Internet, berichteten von unhaltbaren Zuständen und begrüßten die versprochene Vertragssicherheit. Gleichzeitig setzte aber ein öffentlicher Streit unter Akademikern ein über die Frage, ob die neuen Arbeitsrechte womöglich Chinas Entwicklung behindern könnten. Dahinter stand, wie so oft in China, der Konflikt zwischen der Zentrale und den Provinzen. Gleich mehrere Provinzregierungen hatten gewarnt, ihnen würden die ausländischen Investoren davonlaufen, wenn es zu den Reformen käme. Und dafür gab es guten Grund. Denn ausgerechnet die Lobbyorganisationen der internationalen Konzerne aus Europa und Amerika, die Amerikanische und die Europäische Handelskammer, liefen regelrecht Sturm gegen die geplanten Veränderungen. Kurz nach Veröffentlichung des Entwurfs erschien im April 2006 zunächst eine Gruppe von westlichen Geschäftsleuten unangemeldet bei einem Treffen von Schanghaier Juristen und Abgeordneten, die über die Reform diskutieren wollten. Die Ausländer gaben sich als Vertreter der US-Handelskammer aus und drohten unverhohlen, sie würden ihre Investitionen abziehen. Auch der Präsident der EU-Handelskammer, der niederländische Banker Serge Janssens de Varebeke, warnte öffentlich, das Gesetz würde im Fall der Verabschiedung "die Flexibilität der Arbeitgeber einschränken und ... ausländische Unternehmen zwingen, ihre Investitionen in China zu überdenken".

Anschließend verschickten die beiden Handelskammern geharnischte Stellungnahmen an das zuständige Gremium des Volkskongresses, Chinas offiziellen Gesetzgebers. "Das geltende Arbeitsrecht in verschiedenen europäischen Ländern hat zu steigenden Arbeitskosten und darum zur Verlagerung von Produktionslinien in außereuropäische Standorte geführt", schrieben da Europas Konzernlobbyisten und drohten: "Wenn China dieses Arbeitsrecht in Kraft setzt, wird es zweifellos vor dem gleichen Problem stehen." Ganz ähnlich formulierte es die US-Handelskammer, die 1300 Unternehmen vertritt, darunter Weltmarken wie General Electric, Microsoft, Dell oder Nike. Das neue Gesetz werde "die Beschäftigungsmöglichkeiten für Chinas Arbeiter mindern" und "sich negativ auf die Wettbewerbsfähigkeit der Volksrepublik China auswirken", hieß es in dem Brief an die Abgeordneten.

Schanghai: Die weltbekannte Leuchtschrift wird gewartet

Die Drohungen wirkten prompt. Acht Monate nach dem ersten Vorstoß kassierten die Arbeiterfreunde in Peking den radikalen Teil ihres Reformpakets wieder ein. Die neue Version des Gesetzentwurfs verpflichtet Arbeitgeber nur noch zu "Beratungen", nicht aber zu "Verhandlungen" mit Arbeitnehmervertretern im Fall von Entlassungen und geänderten Arbeitszeiten und -bedingungen. Auch die Begrenzung der Leiharbeit, mit der sich Arbeitsschutzvorschriften leicht umgehen lassen, war nicht mehr vorgesehen. Wie der zuständige Ausschuss zu diesen Änderungen kam, darüber drang nichts nach außen. Zweifellos haben sich auch chinesische Unternehmen und Topmanager gegen das neue Arbeitsrecht ausgesprochen. Doch die Anwälte und Lobbyisten der westlichen Konzerne schrieben sich den Sieg auf ihre Fahnen. "Wir haben hier genügend Investitionen im Spiel, um jemanden zum Zuhören zu kriegen, wenn es uns wichtig ist", brüstete sich etwa der Personalchef von Microsoft China im Blick auf die geforderten Änderungen. "Die Einsprüche der Business Community haben wohl gewirkt", freute sich auch ein Anwalt des Rechtsberatungskonzerns Baker & McKenzie, der zahlreiche US-Unternehmen in China vertritt. Doch auch mit den verwässerten Regeln waren die Konzernlobbyisten nicht zufrieden. Noch immer waren Vertragspflicht, die Begrenzung von befristeten Arbeitsverträgen und die Wahl von Vertretern vorgesehen. Gewerkschafter mit Parteibuch sollten in jeden Betrieb einziehen. Entsprechend reichten die Lobbyisten weitere Proteste ein.

Ihre Kampagne für die fortgesetzte Rechtlosigkeit von Chinas Arbeitern betrachteten die Konzernstrategen bis dahin vermutlich als eine Art interne Angelegenheit, die nicht über China hinausdringen würde - so wie es lange ja auch gewesen war. Aber im Zeitalter von Internet und E-Mail unterhält nicht nur die Geschäftswelt globale Netzwerke. Eine kleine Aktivistengruppe in Hongkong, Herausgeber des China Labour Bulletin, informierte Gewerkschafter in aller Welt über die anrüchigen Bestrebungen der Konzernlobby. Die Nachricht trat eine globale Protestwelle los. Menschenrechtsorganisationen und Gewerkschaften wandten sich direkt an die Mitgliedsunternehmen der beiden Kammern, und Konzerne wie Nike und Ericsson sahen ihr Markenimage so gefährdet, dass sie sich öffentlich von der Tätigkeit ihrer Vertreter in China distanzierten. Die EU-Handelskammer in Schanghai veröffentlichte auf Druck ihrer Mitglieder sogar eine "Klarstellung", wonach sie selbstverständlich "die dringende Notwendigkeit zur Verbesserung der Arbeitsbedingungen in China" sehe und zu diesem Zweck "fest auf der Seite der chinesischen Regierung" stehe. Ihre US-Kollegen und amerikanische Konzernriesen wie General Electric oder Intel hielten dagegen an ihren Positionen fest.

Daraufhin trugen US-Gewerkschafter das Thema in den Kongress und luden den Schanghaier Arbeitsrechtsprofessor Liu Cheng ein, mit den Senatoren und Kongressabgeordneten zu sprechen. Gut zwei Wochen verbrachte der Jurist im April 2007 in den USA, um für das chinesische Reformvorhaben zu werben, an dessen Entwurf er selbst beteiligt war. "Ich habe ihnen gesagt, dass die Wirtschaftsverbände ihre Sweatshops weiterbetreiben wollen, um das Lohndumping beibehalten zu können", fasste der umtriebige Arbeitsrechtler seine Botschaft anschließend zusammen. Außerdem seien auch Abgeordnete des chinesischen Volkskongresses "von der Arbeitgeberlobby beeinflusst, darum brauchen wir noch Unterstützung von außen", sagte Cheng.

Gleich 32 Abgeordnete des Repräsentantenhauses nahmen das durchaus ernst und brachten eine Resolution ein, mit der sie die Regierung Bush zwingen wollten, gegenüber der Regierung in Peking ausdrücklich die ursprünglich vorgesehene Reform zu unterstützen. Dazu war es dann zwar zu spät, der Volkskongress verabschiedete das neue Gesetz in der verwässerten Version. Aber Cheng ist trotzdem guter Hoffnung. Weitere Reformen seien schon in Arbeit.

So wurde, was zuvor nur eine innerchinesische Angelegenheit gewesen war, binnen weniger Monate ein Stück Weltpolitik, das alle gängigen Klischees widerlegt. Plötzlich sei "klar geworden, dass nicht die Chinesen den amerikanischen Arbeitern die Jobs stehlen", sondern dass "unsere Konzerne die Löhne in China drücken und damit weltweit Druck auf Löhne und Arbeitszeiten machen", erklärt der amerikanische Gewerkschaftsanwalt Earl Brown. Nicht China, sondern "die globale Sweatshop-Lobby" sei der eigentliche Gegner, meint Brown. "Da mussten unsere Politiker, aber auch unsere Gewerkschafter einiges lernen."

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Harald Schumann / Christiane Grefe: "Der globale Countdown. Gerechtigkeit oder Selbstzerstörung - die Zukunft der Globalisierung", Kiepenheuer & Witsch, 426 Seiten, 19,95 €