In Brandenburg sammelt ein breites Bündnis Unterschriften für das erste Monatsticket für sozial Schwache im Nahverkehr eines Bundeslandes

VON GABRIELE BÄRTELS

Seit 2005 hatte die Linken-Fraktion im Brandenburger Landtag wiederholt gefragt, wie ein landesweites Sozialticket für rund 300000 Anspruchs- berechtigte umzusetzen wäre, drang aber bei der Regierung nicht durch. Die Große Koalition der SPD/CDU argumentierte, nur der Schienenverkehr liege in Länderverantwortung, über Fahrpreise für Busse und Straßenbahnen entschieden die Kommunen.

Weil das formal richtig ist, gibt es - von Stadtstaaten abgesehen - in keinem Bundesland ein Sozialticket, das Hartz-IV-Empfängern, Senioren mit schmalen Renten und Niedriglöhnern erlaubt, den Öffentlichen Nahverkehr zum verminderten Fahrpreis zu nutzen. Doch die verkehrspolitische Sprecherin der Linken, Anita Tack, wendet ein, dass zehn von 14 Brandenburger Kommunen es sich nicht leisten können, ein solches anzubieten. So kommt es, dass Bedürftige in wenigen Kreisen ein Sozialticket nutzen können, in den meisten aber nicht. Auch gelten diese Ermäßigungen nur für den Bus-, aber nicht für den Schienenverkehr.

Nun liegt der Betrag, der im ALG II für Verkehrsleistungen vorgesehen ist, bei 11 Euro monatlich. Damit kann ein Niedriglöhner aus einem Dorf nicht täglich in die Kreisstadt zur Arbeit fahren. Damit muss die hinfällige Rentnerin meistens zuhause bleiben, anstatt Verwandte zu besuchen. Damit kann ein Erwerbsloser seine Kontakte nicht erweitern, und seine Initiative, auf eigene Faust im größeren Umkreis nach einem Job zu suchen, wird im Keim erstickt.

Das Volk muss sich selbst helfen

Das Landtagsbüro von Anita Tack ist ein helles Eckzimmer, in dem sich überall Papiere stapeln. Hier wurde 2006 die erste Pressekonferenz geplant, auf der das landesweite Sozialticket öffentlich gefordert wurde. Doch es gelang ihr nicht, das Thema zur Beratung in den Landtag zu hieven.

In solchen Fällen muss das Volk sich selbst helfen. Dafür hat das Gesetz drei Schritte vorgesehen. Der erste ist die Volksinitiative. Werden dem Landtagspräsidenten innerhalb einer festgelegten Frist 20000 gültige Unterschriften vorgelegt, muss er ein Thema auf die Tagesordnung nehmen, ob die Regierung will oder nicht.

20000 Unterschriften sammeln - das ist nur zu schaffen, wenn man viele Kräfte vereint. Anfang 2007 standen neben der Linken in einem lockeren Interessen-Bündnis auch ver.di, DGB, Arbeitslosenverband, GRÜNE LIGA, Volkssolidarität, Sozial- und Wohlfahrtsverbände parat, um mit allen Mitteln Brandenburger Bürger zu animieren, sich mit ihrer Unterschrift an der Initiative zu beteiligen. Am 1. Mai begann die landesweite Kampagne.

Jeder tat, was in seinen Kräften stand. Die Verbände sprachen Mitglieder an und die schwärmten aus, um an Haltestellen, Umsteigeplätzen, auf Wochenmärkten und Volksfesten Bürger für die Sache zu gewinnen. Vorhandene E-Mail-Verteiler wurden genutzt, man betrieb eifrig Pressearbeit, verschenkte T-Shirts und Sticker.

Mit Tatendurst und Hartnäckigkeit

Beachtliches geleistet hat dabei Carsten Zinn, ehrenamtlicher Vertreter von ver.di in Brandenburg. Er ist Zootechniker, erwerbslos und 51 Jahre alt, ein sprudelndes Paket aus Tatendurst, Energie, Leidenschaft und Hartnäckigkeit. Dafür ist er kräftig gepolstert, sieht aus, wie einer, der zupackt. Sein Anspruch lautet: "Das Land muss sich bekennen. Es reicht uns nicht, wenn es sich mit Formalien aus der Affäre zieht!" Er allein durchstreifte monatelang Züge, setzte sich in Busse, sprach auf 13 Volksfesten an 13 Wochenenden unermüdlich Menschen an, um ihre Unterschrift für die Sache zu gewinnen.

Sein Eindruck: "Zu 95 Prozent waren die Unterzeichner Normalverdiener, was zeigt, dass sich viele Menschen mit sozial Benachteiligten solidarisch erklären." Solch eine Augenschein-Schätzung ist natürlich gewagt, aber vielleicht ist trotzdem die Frage erlaubt, weshalb so wenig persönlich Betroffene unterzeichneten. Carsten Zinn schweigt dazu einige Sekunden. "Selber schuld, wenn sie ihren Hintern nicht hoch kriegen", sagt er dann. Eine leise Bitternis schleicht sich ein, als er fortfährt: "Viele wollen alles vorserviert kriegen und sind sich selbst egal."

Bis September 2007 kamen trotzdem 33000 Stimmen zusammen, davon 29000 gültige. Die Volksinitiative hatte gewirkt: Der Weg war frei, das Thema auf die Tagesordnung des Landtags zu bringen. Doch Politik ist auch die Wissenschaft der Winkelzüge. "Die großen Parteien schoben das Anliegen vom Verkehrs- zum Sozialausschuss und wieder zurück, hielten sich an wechselnden Nichtzuständigkeiten fest, anstatt sich mit der Sache zu befassen", erzählt Anita Tack und blättert dabei in dicken Ordnern mit Protokollen.

Erfolgreich im Sande verlaufen

Heraus kam - nichts. Die Große Koalition verwies wieder zurück auf die Zuständigkeit der Kreise. Damit war die Volksinitiative abgelehnt. "Im Sande verlaufen", sagt Anita Tack und klappt den Ordner zu. Carsten Zinn wertet die Niederlage trotzdem als Erfolg. "Der außerparlamentarische Druck treibt die Koalition vor sich her, insofern ist es ein wesentliches Zwischenergebnis."

Den Vertretern der Volksinitiative Sozialticket blieb nur übrig, weiter Druck zu machen. Nach einigem Zögern entschieden sie sich, die nächste Stufe der Rakete zu zünden. Das gesetzliche Mittel dazu ist das Volksbegehren.

Am 25. Februar 2008 wurde beim Landtagspräsidenten Gunter Fritsch (SPD) ein Antrag auf Einleitung eines Volksbegehrens gestellt. Der Landesabstimmungsleiter hat anschließend dieses Volksbegehren öffentlich bekannt zu machen. Frühestens im Mai könnte mit der erneuten Mobilisierung der Brandenburger begonnen werden. Binnen einer Frist von vier Monaten sind dann nicht zwanzig-, nicht fünfzig-, nein achtzigtausend Unterschriften zu sammeln, und dies nicht einfach auf der Straße, sondern auf amtlichen Eintragungslisten, die in den Einwohnermeldeämtern ausliegen. Wie schleppt man nun 80000 Unterschriftswillige samt ihrer Personalausweise dahin? "Das ist die Frage des Tages", sagt Carsten Zinn in einem Theaterton.

"Und sie bewegt sich doch", soll Galilei gesagt haben, als er der Behauptung widersprach, die Erde sei eine Scheibe. Etwas Ähnliches müssen die Vertreter der Volksinitiative ausgerufen haben, als sie erfuhren, dass am Vorabend ihres Termins beim Landtagspräsidenten plötzlich die SPD ein Sozialpaket präsentierte, das unter anderem die Einführung eines landesweiten Tickets zum halben Fahrpreis für sozial Bedürftige vorsieht. Nicht, dass die SPD für den Antrag den Begriff "Sozialticket" übernommen hätte: Das Kind trägt den Namen "Mobilitätsticket". Anita Tack: "Die Landesregierung hat im Hintergrund schon daran gearbeitet."

Jetzt muss das Volk begehren

Ein bindender Beschluss liegt aber noch nicht vor. Anita Tack meint: "Es ist möglich, dass sie sich das noch einmal überlegen werden. Definitiv müssen sie sich erst zum 1. September 2008 entscheiden. Wir trauen der Regierung nicht über den Weg." Sie gibt aber zu, dass der Vorschlag der SPD in seinen Einzelheiten sogar über das hinausgeht, was die Volksinitiative gefordert hat.

Trotz dieses Hoffnungsschimmers entschied die Volksinitiative Anfang April aber einmütig, das Volksbegehren weiter zu betreiben, denn es sieht so aus, als ob sich der Verkehrsverbund Berlin-Brandenburg und die Landesregierung über Einzelheiten der Fahrpreisermäßigung noch heftig streiten. Bis sich die Verhandlungsparteien Ende Juni zusammensetzen, soll der Druck von unten anhalten. Sollten sie zu keinem Ergebnis kommen, so wird er sogar zunehmen.

http://bb.verdi.de/frauen_gruppen/erwerbslose/sozialticket