Ausgabe 06/2008-07
Von wegen Aufschwung
Von Renate Bastian |ver.di Hessen macht sich für die Leiharbeiter/innen stark
Hessen hat sich in den letzten zehn Jahren zu einem wahren Eldorado für Leiharbeitsfirmen entwickelt, wie ein Blick in die Statistiken zeigt. Bea Müller von ver.di Hessen beanstandet also nicht von ungefähr die enormen Dimensionen der Leiharbeit, die zu einer großen Herausforderung für die Gewerkschaft geworden ist. 2709 dieser Firmen tummeln sich hier, die Zahl der Leiharbei-ter/innen stieg - kräftiger als in anderen Bundesländern - um sagenhafte 440 Prozent, von rund 26500 im Jahr 1997 auf 141000 im Jahr 2007. Schon Jahre zuvor war die Branche größter Arbeitgeber im Bundesland.
Statistiker behaupten, es würden mehr Menschen in Arbeit gebracht. Politiker glauben, es fühlen zu können: Der Aufschwung kommt unten an. Sehen die denn grade einen ganz anderen Film? Gewerkschaftssekretärin Bea Müller: "Wo Leiharbeit in die Betriebe einzieht, breitet sich Tarifdumping aus, und reguläre Arbeitsplätze werden vernichtet." Leiharbeiter bekommen 30 bis 40 Prozent weniger Geld. Von den betrieblichen Leistungen sind sie abgekoppelt. Ein hoher Prozentsatz ist auf zusätzliche Unterstützung durch Hartz IV angewiesen. Nur wenigen gelingt der Sprung in eine feste Arbeit. So bleibt der Aufschwung für die meisten eine Chimäre.
Personal geräuschlos auf- und abgebaut
Für die Stammbelegschaften stellen die Schattenbeschäftigten eine ständige Bedrohung dar. Denn längst werden Leiharbeiter nicht mehr für einen begrenzten Zeitraum gerufen, wenn Arbeitsspitzen aufgrund zusätzlicher Aufträge bewältigt werden müssen. Heute besteht die Tendenz, reguläre Arbeitsplätze mit geliehenen Kräften zu besetzen. Besonders große Firmen fragen in erheblichem Umfang um Leiharbeiter nach. Diese Form von Tarifdumping hat inzwischen auch Bereiche wie den Handel, die Druckindustrie, die Zeitungsverlage, die privaten Gesundheitsdienste, Pflegeeinrichtungen der Kirchen und der Wohlfahrtsverbände sowie den Bodenservice der Flughäfen erreicht. Auch in Hessen gibt es Beispiele, dass große Firmen sich eigene Personalagenturen schaffen, mitunter sogar, um entlassene oder ausgelagerte Beschäftigte zu schlechteren Bedingungen wieder einzustellen. Diese Entwicklung wurde übrigens durch die rot-grüne-Bundesregierung und ihre Agenda-Gesetze möglich. Sie gestatteten unter anderem die unbegrenzte Überlassungszeit und Wiedereinstellung.
In Mittelhessen hat sich Ende April eine Arbeitstagung von Vertrauensleuten dem Thema gewidmet. Jo Hahlgans aus Gießen umriss die Sachlage: "Wesentliche Verlockung für die Arbeitgeber ist, dass ein professionelles externes Personalmanagement aus einer Hand - der Verleiher - hilft, Fehlbesetzungen zu verringern, Einarbeitungszeiten zu verkürzen, Personal geräuschlos auf- und abzubauen, feste Beschäftigungsverhältnisse flexibel zu ersetzen." Auf diese Weise wird passend für jeden Betrieb eine zweite, schlechter bezahlte Belegschaft maßgeschneidert. Und das nicht nur für den Alltag, sondern auch für Streiks. Um zu verhindern, dass sich in den Betrieben zwei geschlossene Kreise von Beschäftigten bilden, muss die tarifliche Gleichstellung der "Ausgeliehenen" erreicht werden. Das bedeutet aber zuvor, dass die Betriebsräte deren Interessenvertretung stärker in den Blick nehmen, dass Brücken geschlagen werden, wie Jo Hahlgans sagt.
Außerdem stehen 2010 die Betriebsratswahlen an. Bis dahin muss geklärt werden, dass Leiharbeiter auch rechtlich zur Belegschaft zählen. Mittelhessen hat sich diese Aufgaben vorgenommen, der ver.di-Bezirk Südhessen setzt sie auch auf die Tagesordnung. Am Frankfurter Flughafen besteht ein Arbeitskreis von Betriebsräten, der intern im Betrieb für Informationen sorgen und die Probleme an die Öffentlichkeit tragen will. verdi Hessen plant, gegen Leiharbeit an den Rundfunkanstalten vorzugehen. Bea Müller ist insofern vorsichtig optimistisch, "weil viele Fachbereiche betroffen sind und wir die Kraft der gesamten Organisation bündeln können".