Ausgabe 10/2008
Finanzmärkte schlicht zu groß
Mehr Regulierung, eine Millionärssteuer und ein Konjunkturprogramm fordert ver.di-Wirtschaftsexperte Michael Schlecht, um die Folgen der Finanzkrise abfedern zu können
Michael Schlecht leitet den Bereich Wirtschaftspolitik beim ver.di-Bundesvorstand
ver.di PUBLIK | Wagen Sie doch eine Prognose: Wie lange wird die Finanzkrise noch dauern?
Michael Schlecht | Die Krise wird uns noch Jahre beschäftigen - und vermutlich sind wir noch nicht am Tiefpunkt. Ich weiß nicht, wie dieses Land in drei Monaten aussieht.
ver.di PUBLIK | Der Internationale Währungsfonds schätzt, dass 1,4 Billionen Dollar abgeschrieben werden müssen. Das ist doch eigentlich gar nicht viel bei einem weltweiten Finanzvermögen von rund 100 Billionen Dollar. Warum konnte es dennoch zu einem solchen Chaos kommen?
Schlecht | Es ist wie ein Kartenhaus. Wenn man unten nur eine Karte herauszieht, bricht alles ein. Die Produkte in der Finanzwelt sind mit extremen Hebeln versehen. Man kennt das von den Private-Equity-Fonds, die mit fast gar keinem Eigenkapital bis zu 30 Prozent Rendite einfahren wollten. Diese Hebel richten sich jetzt gegen die Akteure.
ver.di PUBLIK | Was jeden Sparer interessiert: Ist sein Geld noch sicher?
Schlecht | Am sichersten sind natürlich die Sparkassen. Bisher sind sie immer als angeblich überflüssig angegriffen worden. Deshalb muss man den öffentlichen Sektor stärken und ausbauen.
ver.di PUBLIK | Aber gerade die massiven Fehlspekulationen der Landesbanken zeigen doch, dass auch öffentlich-rechtliche Institute katastrophale Investitionen tätigen können.
Schlecht | Die sind zum Teil durch die Konkurrenz mit den Privatbanken in abenteuerliche Geschäfte getrieben worden. Und verantwortungslose Politiker haben das laufen lassen. Die demokratische Kontrolle der Landesbanken muss besser werden.
ver.di PUBLIK | Bisher ist jedes Mal der Staat eingesprungen, wenn eine Bank in Schieflage geriet. Waren diese Rettungsaktionen richtig?
Schlecht | Der Staat kann die Banken nicht einfach Pleite gehen lassen. Das könnte eine unabsehbare Kettenreaktion auslösen. Aber es darf nicht sein, dass die Gewinne privatisiert und die Verluste sozialisiert werden. Zum Beispiel müssen die Millionäre an den Rettungskosten beteiligt werden.
ver.di PUBLIK | Mit diesem Vorschlag stehen Sie aber ganz allein da in der Bundesrepublik.
Schlecht | In Deutschland gibt es über 800000 Millionäre, die durchschnittlich über ein Vermögen von je 3,5 Millionen Euro verfügen. Bei einem Freibetrag von einer Million würde eine Millionärssteuer von 1,5 Prozent immer noch knapp 30 Milliarden Euro einbringen.
ver.di PUBLIK | Das klingt aber nach Sippenhaftung. Nicht jeder Millionär ist ein Investmentbanker, der eine Bankpleite zu verantworten hat. Darunter sind auch viele Ärzte, Anwälte, Handwerker und Unternehmer. Und die wollen Sie jetzt alle bestrafen?
Schlecht | Auch Millionen anderer unschuldiger Menschen werden unter den verheerenden Folgen der Finanzkrise leiden, ihren Arbeitsplatz verlieren und vielleicht nur noch bei Aldi einkaufen gehen können. Wenn Millionäre etwas von ihrem Vermögen abgeben müssten, wäre das ein vergleichsweise harmloser Schicksalsschlag.
ver.di PUBLIK | Die Bundesregierung hat aber andere Pläne. Finanzminister Peer Steinbrück (SPD) setzt vor allem auf stärkere Regulierung - also verbesserte Bankenaufsicht oder schärfere Bilanzregeln.
Schlecht | Das ist natürlich absolut notwendig. Das eigentliche Problem ist die Geldschwemme, die durch die massive Umverteilung von unten nach oben entstanden ist. Die Reichen und Vermögenden haben in unserem Land in den letzten zehn Jahren eine Billion Euro hinzugewonnen. Eine halbe Billion haben die Kapitaleigner kassiert, indem die Löhne nur ungenügend gestiegen sind - und eine halbe Billion kamen durch Steuergeschenke zusammen. Ein zweites Problem ist die Privatisierung der Altersvorsorge. Allein die Pensionsfonds bringen es inzwischen weltweit auf knapp 30 Billionen Dollar. Die Finanzmärkte sind schlicht zu groß. 1980 betrug das Finanzvermögen vier Billionen Dollar; jetzt sind es ungefähr 100 Billionen. Diese Kapitalmassen üben Gewalt aus, je größer sie sind: Sie wollen sich verwerten, auf Teufel komm raus.
ver.di PUBLIK | Bisher ist die Finanzkrise vor allem auf die Banken und Versicherungen beschränkt. Wird sie auf die Realwirtschaft überspringen?
Schlecht | Die Konjunktur hat sich schon vor der Finanzkrise abgeschwächt. Die Große Koalition benutzt die Finanzkrise als Ausrede, um ihre eigene verfehlte Politik zu kaschieren. Die deutsche Binnennachfrage ist durch das Lohndumping und die staatlichen Sparhaushalte viel zu schwach. Aber die Rezession wird durch die Finanzkrise noch atemberaubend beschleunigt. Ich fürchte für das nächste Jahr stellt sich nur noch die Frage: Wie viel unter Null wird es werden?
ver.di PUBLIK | Manche Ökonomen fordern ein Konjunkturprogramm. Sie auch?
Schlecht | Ja. Man sollte jetzt möglichst schnell 40 Milliarden Euro investieren. Zum Beispiel wäre es sehr sinnvoll, die Bildungsausgaben zu steigern und mehr Lehrer einzustellen, damit es keine Klassen mehr gibt, in denen 30 Schüler sitzen. Übrigens würde auch der Mindestlohn sofort einen Nachfrageschub von zehn Milliarden Euro auslösen. Und wenn man Hartz IV auf 420 Euro erhöhen würde, brächte das weitere sieben Milliarden Euro Cash. Die Leute würden das Geld ja sofort ausgeben, weil sie zu arm fürs Sparen sind. Auch ein IG-Metall- Abschluss von acht Prozent würde helfen - das wären weitere 16 Milliarden Euro, die als Nachfrage die Volkswirtschaft beleben könnten.
INTERVIEW: ULRIKE HERRMANN