In diesem Jahr präsentiert die Türkei als Gastland der Frankfurter Buchmesse ihre zeitgenössische Literatur. Doch was lesen die hier lebenden deutschtürkischen Kolleginnen und Kollegen? In ver.di PUBLIK zeigen sie uns ihr persönliches Lieblingsbuch

Tiziano Terzani: Das Ende ist mein Anfang

"Die Gespräche zwischen ihm und seinem Sohn in den letzten Wochen seines Lebens sind nach Terzanis Tod erschienen. Er spricht noch einmal über alles, was ihm wichtig war im Leben. Auch über die Erfahrungen, die er in den 30 Jahren als Journalist und Spiegel-Korrespondent gemacht hat. Trotz seines nahen Todes sind es lockere Gespräche, sehr dicht an den Menschen. Es ist unglaublich, wie jemand, der sich auf den eigenen Tod vorbereitet, soviel Lebensfreude schenken kann. Wer kann das schon, zurückblicken und sagen, ich bin total entspannt? Mir hat er vermittelt, das Leben auf jeden Fall zu genießen und bewusst zu leben. Anstatt sich in Religion zu flüchten oder irgendeine Vorstellung vom Leben nach dem Tod.

Ich bewundere sehr, wie Terzani es versteht, das Leben mit all seinen Facetten zu lieben und anzunehmen. Und er liebt die Menschen, was ich nur bewundern kann. Das Buch hat tatsächlich mein Leben verändert, weil er sehr überzeugend vermittelt, dass das Einzige, was im Leben bleibt, die Liebe ist. Eine einfache Weisheit. Wenn man versucht, die Welt mit seinen Augen, seinem Interesse und seiner Aufmerksamkeit zu sehen, dann kann einem dieses reiche Buch sehr viel geben. Ich verschenke es seitdem an alle meine Freunde."

Güner Balci (33) ist Journalistin und arbeitet beim ZDF. Sie wurde in Berlin-Neukölln geboren und wuchs im berüchtigten Rollberg-Viertel auf. Diese Erfahrung hat sie in ihrem großartigen Roman Arabboy - das kurze Leben des Rashid. A. verarbeitet, gerade erschienen im S. Fischer Verlag.


Richard D. Precht : Wer bin ich und wenn ja, wie viele?

"Ich habe den Autor im Fernsehen gesehen und die Art und Weise, in der er über sein Buch gesprochen hat, hat mich begeistert und überzeugt. Sein Buch ist ein Einstieg in die Philosophie. Da kann man sich sehr gut herantasten, weil er auch andere Themen streift, wie beispielsweise Erkenntnisse der Hirnforschung. Hier wird die Lust am Denken geweckt, und das gefällt mir sehr. Es wird zwar manchmal auch ein wenig kompliziert, wenn's um die Philosophie an sich geht. Ich hatte da bisher eigentlich keinen Bezug, aber es setzt sich alles wie ein Puzzle zusammen, und das finde ich klasse. Es regt ungeheuer die Phantasie an, und wie hat Einstein gesagt, Phantasien sind wichtiger als Wissen, denn Wissen ist begrenzt. Ich muss mich mit dem Lesen ranhalten, meine Nichte ist schon ganz gespannt und will es als Nächste haben".

Suleyman Basaran (40) wurde in Adapzari geboren, 130 km östlich von Istanbul, und lebt seit seinem dritten Lebensjahr in Deutschland. Er ist gelernter Schlosser und arbeitet bei den Kölner Verkehrsbetrieben.


Karl Marx/Friedrich Engels: Das kommunistische Manifest

"Dies ist das Einzige, das mich immer wieder fesselt, wenn ich es aufschlage. Es ist unmöglich, sich der stilistischen sowie intellektuellen Kraft dieses Stücks Weltliteratur zu entziehen; eine sehr klare und kurze Analyse des Kapitalismus mit fast prophetischen Zügen, leidenschaftlich und konzentriert. Wenn man sich die Finanzkrise anschaut, ist es doch frappierend, wie Marx und Engels schon vor 160 Jahren genau diese selbstzerstörerischen Kräfte des Kapitalismus beschrieben haben. Selbst ein Ackermann muss zugeben, dass ihre Kapitalismuskritik hochaktuell ist. Marx würde heute all die belächeln, die mit Unternehmensethik versuchen, den Kapitalismus zu bändigen, oder die Heuschrecken beklagen, gleichzeitig aber den Sumpf nähren, in dem sie sich ausbreiten können - da hilft auch kein Unternehmenscodex. Viele sprechen von Marx und Engels, kennen aber kaum eine Zeile der Primärliteratur. Deshalb: mal lesen."

Sevim Dagdelen (33) kam in Duisburg zur Welt. Sie ist Gründungsmitglied des Bundesverbands für Migrantinnen, MdB für Die Linke, stolze ver.dianerin und lebt heute in Berlin.


Kiana Davenport: Gesang der verlorenen Frauen

"Auf dieses Buch bin ich zufällig gestoßen, mich hat schlicht der Klappentext angesprochen. Der Roman ist eine Liebesgeschichte. Anfang der 30er Jahre verliebt sich eine junge Hawaiianerin in einen Trompeter, der durch die amerikanischen Soldaten den Jazz für sich entdeckt. Ihn zieht es nach New Orleans, er taucht ein in die Welt der Musik, sie folgt ihm und trotz Weltkrieg verleben die beiden schließlich in Paris ihre glücklichste Zeit. Ihre Wege trennen sich, als sie von ihrer behinderten Schwester in Shanghai erfährt. Auf ihrer Suche wird sie von Japanern gefangen und als so genannte "Trostfrau" missbraucht. Nach ihrer Befreiung trifft sie - wieder in Hawai - auf ihren Geliebten. Er erkennt sie nicht und sie wagt sich aus Scham nicht zurück in sein Leben. Eine sehr tragische Geschichte, das ist eine Qualität des Buches, denn es ist keine kitschige Tragik, sondern bewegend und realistisch, geschrieben in einer wundervoll üppigen Sprache. Ein Glücksgriff!"

Aysun Tutkunkardes (36) wurde in Frankfurt am Main geboren. Ihr Vater kam 1960 zum Studium nach Deutschland. Die Eltern zogen Aysun und ihre Schwester eher religionsfern auf. Aysun ist ver.di-Jugendsekretärin in Hannover. Seit der Geburt ihres zweiten Kindes befindet sie sich im Mutterschutz.


Aziz Nesin: So geht es nicht weiter - Böyle Gelmis Böyle Gitmez, zwei Bände

"Wie jeder in der Türkei habe ich Nesins Bücher dort schon früher gelesen, mir aber die Bände jetzt auch auf Deutsch besorgt. Nesin ist ein bekannter Satiriker und wurde in 40 Sprachen übersetzt. Er hätte den Nobelpreis verdient. Sein Buch ist eine generelle Kritik an den Umständen in der türkischen Gesellschaft und es ist ein sehr künstlerisch-literarischer Text. Aziz Nesin ist einer der populärsten Schriftsteller in der Türkei. Als dort eine Feier zum Gedenken des türkischen Volksdichters Pir Sultan Abdal stattfand, entkam er nur knapp einem Brandanschlag. Abdal hatte gegen die Missstände im osmanischen Reich gekämpft, war zum Tode verurteilt und gehängt worden. Religiöse Fanatiker zündeten während der Veranstaltung das Hotel an und von 38 Intellektuellen hat nur Aziz Nesin überlebt, indem er über das Hoteldach geklettert ist.

Seit ich die deutsche Ausgabe bei der Büchergilde Gutenberg entdeckt habe, verschenke ich seine Bücher gern zum Geburtstag".

Ismail Kahraman (69) kam an seinem 26. Geburtstag als Metall-Hilfsarbeiter nach Deutschland, obwohl er daheim die Zulassung für die Literaturfakultät bestanden hatte. Er besuchte die Akademie der Arbeit in Frankfurt/M., arbeitete 32 Jahre im Referat Migration des DGB und erhielt 1980 das Bundesverdienstkreuz. Heute ist er Rentner und lebt in Stuttgart.

Aufgezeichnet von Jenny mansch, fotos: aris, jürgen neumann / version, roland geisheimer / attenzione, marc mühlhaus / attenzione, martin storz