REINER HOFFMANN ist stellvertretender Generalsekretär des EGB

Der Kollaps der Finanzmärkte hat mit voller Wucht die Realwirtschaft und die europäischen Arbeitsmärkte erreicht. Wachstumseinbrüche von fünf Prozent und mehr sowie der Verlust von Zehntausenden Arbeitsplätzen täglich treiben die Regierungen dazu, schwindelerregende Summen in die Hand zu nehmen, um das marode gewordene Bankensystem zu retten. Ich unterstelle zunächst, dass es zu dieser Art, teilweise von Panik getriebenen politischen Reaktion keine wirkliche Alternative gibt. Daher war es durchaus richtig, dass die Europäische Kommission ein Programm zur Stimulierung der Nachfrage in der Größenordnung von 200 Milliarden Euro auf den Weg gebracht hat. Zu bezweifeln ist allerdings, ob ein solches Programm ausreicht. Bislang haben sich die Mitgliedstaaten nicht wirklich auf eine koordinierte strategische Krisenbewältigung verständigen können. Stattdessen drohen nationale Alleingänge, Renationalisierung und Protektionismus nach dem Motto "British Jobs for "British Workers" oder "Made in France", wie es der englische Premier Gordon Brown oder auch der französische Staatspräsident Nicolas Sarkozy vertreten.

In der Krise rächen sich die jahrelangen Versäumnisse der Politik. Bewusst wurden die Arbeitsmärkte dereguliert und flexibilisiert und auf eine intelligente Regulierung der Finanzmärkte verzichtet. Hinzu kommt eine Rechtssprechung des Europäischen Gerichtshofes (EuGH) in den letzen Jahren (Viking, Laval, Rüffert, EU-Kommission gegen Luxemburg), mit der die Arbeitnehmer- und Gewerkschaftsrechte systematisch zugunsten der Arbeitgeber geschwächt

wurden. Das Gericht räumt den wirtschaftlichen Freiheiten des Binnenmarktes Vorrang vor den sozialen Grundrechten ein. Schlimmer noch, der EuGH hat die Entsenderichtlinie in ihr Gegenteil verkehrt: Der Grundsatz, "Gleiche Lohn- und Arbeitsbedingungen für gleiche Arbeit am gleichen Ort" wurde ausgehebelt und Mindeststandards wurden zu Höchststandards umdefiniert. Um Renationalisierung und Protektionismus zu verhindern, muss in der schwersten Wirtschaftskrise seit dem zweiten Weltkrieg verhindert werden, dass die Arbeitnehmer die Zeche für eine verfehlte Politik und das skrupellose Verhalten gewinngieriger Banker und Manager zahlen. Dazu gehören die Stärkung der Arbeitnehmerrechte und verbindliche Spielregeln für den europäischen Arbeitsmarkt. Ansonsten drohen ökonomischer Nationalismus, wachsende Fremdenfeindlichkeit sowie eine extrem explosive und gefährliche Stimmung das europäische Integrationsprojekt zu gefährden.

Wie angespannt die Situation in vielen Regionen Europas bereits ist, haben die Auseinandersetzungen Mitte Februar in Lindsey in Mittelengland beim französischen Energiekonzern Total gezeigt. Die britische Gewerkschaft Unite hatte dem Konzern vorgeworfen, ausländische Arbeitskräfte gegen britische Arbeiter auszuspielen, indem britische Arbeitnehmer diskriminiert und ihre Tarifstandards unterboten wurden. Die Freizügigkeit der Arbeitnehmer im europäischen Binnenmarkt darf aber nicht zu Lohndrückerei führen. Dies sollte gerade mit der Entsenderrichtlinie aus dem Jahr 1996 verhindert werden. Folgerichtig fordern auch die britischen Gewerkschaften eine rasche Novellierung des europäischen Entsendegesetzes.

Bei allem (notwendigen) Aktivismus zur Eindämmung der Krise bleibt die EU-Kommission bislang weitgehend tatenlos, wenn es um die Sicherung der Arbeitnehmerrechte geht. Weder die EuGH-Urteile noch die zunehmenden Rechtsunsicherheiten bei der Anwendung der Entsenderichtlinie sind ihr Anlass, die Reform der Entsenderichtlinie rasch in Angriff zu nehmen. Im Gegenteil, der Reformbedarf wird im aktuellen Arbeitsprogramm der Kommission für das Jahr 2009 völlig ignoriert. Die Arbeitnehmerfreizügigkeit darf jedoch nicht länger Einfallstor dafür sein, dass Tarifverträge unterlaufen werden und die Gleichbehandlung der Arbeitnehmer missachtet wird. Mit der raschen Reform des Entsendegesetzes muss sicherge- stellt werden, dass es nicht auf ein Instrument des Binnenmarktes degradiert wird, sondern wirksamen Arbeitnehmerschutz garantiert. Sie kann lediglich Mindestbedingungen regeln und muss den Mitgliedstaaten ermöglichen, darüber hinaus günstigere Arbeitsbedingungen festzulegen.

Um der katastrophalen Rechtsprechung des EuGH klare Grenzen zu setzen, brauchen wir des Weiteren ein soziales Fortschrittsprotokoll, mit dem den sozialen Grundrechten einschließlich Tarifautonomie und Streikrecht Vorfahrt vor den Binnenmarktfreiheiten eingeräumt wird. Ein solches Protokoll muss vom Europäischen Rat rasch verabschiedet werden. Verbale Absichtserklärungen - wie auf dem EU-Gipfel im Dezember 2008 - sind nicht länger ausreichend. Um die negativen Folgen der Rezession abzufedern, muss Europa klare Zeichen setzen, in dem es die Arbeitnehmerrechte stärkt.

Die Arbeitnehmerfreizügigkeit darf nicht länger Einfallstor dafür sein, dass Tarifverträge unterlaufen werden