HELMUT PLATOW ist der Leiter der Rechtsabteilung beim ver.di-Bundesvorstand

ver.di PUBLIK | Das Bundesverfassungsgericht hat den Freistaat Bayern im Blick auf sein reaktionäres Versammlungsgesetz mit einer einstweiligen Anordnung ausgebremst. Ist damit auch beim Recht der Gewerkschaften auf Streik jetzt alles in Ordnung?

HELMUT PLATOW | Die Eilentscheidung aus Karlsruhe ist natürlich hocherfreulich und eine heftige Ohrfeige für den bayerischen Landesgesetzgeber. Sie signalisiert, dass da auch nach höchstrichterlicher Einschätzung Gefahr im Verzug war für ein existenzielles Grundrecht. Aber für die Gewerkschaften ist damit noch lange nicht alles in Ordnung. Vor wenigen Wochen ist unser Münchner ver.di-Sekretär Orhan Akman nämlich wegen angeblichen Verstoßes gegen das alte Versammlungsrecht zu einer Geldstrafe verurteilt worden, das bis dahin Bundesrecht war. Solange also nicht gesetzlich oder höchstrichterlich klar-gestellt ist, dass Streikversammlungen nicht den Bestimmungen des Versammlungsrechts unterliegen, bleibt die Handlungs- freiheit der Gewerkschaften bedroht.

ver.di PUBLIK | Warum will ver.di Streikversammlungen denn partout nicht polizeilich anmelden?

PLATOW | Weil ver.di davon überzeugt ist, dass zumindest spontane Streikversammlungen von einem anderen Grundrecht, nämlich dem auf Koalitionsfreiheit geschützt sind und mit dem Versammlungsrecht gar nichts zu tun haben. Das Bundesarbeitsgericht billigt den Gewerkschaften sogar zu, dass spontane Aktionen mit Überraschungseffekt heutzutage notwendig sind.

ver.di PUBLIK | Wie sieht das praktisch aus?

PLATOW | Wenn ver.di jegliche Streikversammlung bei den Behörden anmelden muss, kann ein Unternehmer sich jeden Tag bei der Polizei erkundigen, ob vor seinem Betriebsgelände demnächst etwas geplant ist, und sich dementsprechend einrichten, zum Beispiel Streikbrecher anheuern oder die streikwillige Belegschaft mit anderen Sanktionen bedrohen. Und wenn die Streikenden im Zweifel aber nicht im Betrieb bleiben dürfen - das hat das Bundesarbeitsgericht ebenfalls festgelegt - und vom Gelände heruntermüssen, aber sich dann vor dem Betrieb nicht mehr ohne Polizeigenehmigung treffen dürfen, dann ist das Grundrecht auf Streik praktisch ausgehebelt. Denn die Streikenden können zum Beispiel nicht mehr bei Streikbrechern um Solidarität werben, und sie können Streikbruch nicht mehr unterlaufen, indem sie selber die Arbeit wieder aufnehmen.

ver.di PUBLIK | Was ist zu tun?

PLATOW | Seit der Föderalismusreform ist das Versammlungsrecht Länderrecht. Da droht nun ein Flickenteppich aus unterschiedlichen Ländergesetzen. Baden-Württembergs FDP-Innenminister hat zum Beispiel ein ähnliches Gesetz wie das bayerische vorgelegt, ist aber glücklicherweise von der eigenen Partei gestoppt worden. Gewerkschafterinnen und Gewerkschafter sollten bundesweit aufmerksam beobachten, was sich in ihrem jeweiligen Land beim Versammlungsrecht tut, Verbündete suchen und, wenn nötig, demokratisch Alarm schlagen.