Mehr als 20 Millionen Wanderarbeiter haben schon jetzt ihre Arbeit verloren

Von Jutta Lietsch

Familie Xu auf Jobsuche am Rande von Kanton. Der Wanderarbeiter ist erwerbslos

Xu Wenwei schaut auf die wenigen Plakate mit Jobangeboten in einer Seitenstraße am Rande der südchinesischen Provinzhauptstadt Kanton (Guang-zhou). Den zehn Monate alten Sohn auf dem Arm wandert er mit seiner Frau an den Ständen vorbei, an denen die Werber von Lederfirmen ihre Stellen ausgeschrieben haben. Der 27-Jährige hat seit der Schule "alle möglichen Jobs" gemacht, in den letzten zwei Jahren nähte er Taschen. Nun gehen seinem Arbeitgeber die Aufträge aus. Deshalb sieht sich Xu nach Neuem um. "Ich glaube, mein Chef will flüchten", sagt er. Die Umstehenden nicken: "Das gibt's häufig. Die Bosse hauen ab, ohne die Löhne zu zahlen."

Tausende Pleiten

Tausende Betriebe haben in den vergangenen Monaten allein in der Südprovinz Guangdong Pleite gemacht. In der Region reihen sich gewaltige Fabrikanlagen, Arbeiterwohnheime und Geschäftsstraßen aneinander. Hier steht die Werkstatt der Welt, von hier aus exportiert China Produkte in alle Welt. Doch die Aufträge aus dem Ausland, vor allem aus den USA und Europa, sind eingebrochen. In der Industriestadt Shenzhen sind in den letzten drei Monaten des Jahres 2008 zahlreiche Firmenchefs mit ihren Lohnkassen verschwunden, melden die Zeitungen. Anderswo ist es kaum besser. Mancherorts sind die Arbeitsämter eingesprungen und haben einen Teil der Gelder aufgebracht. In einigen Fällen haben die Behörden angekündigt, säumige Firmen auf eine Schwarze Liste zu setzen. Doch das wird nicht viel bewirken. Die chinesischen Arbeitsschutzparagraphen stehen meist nur auf dem Papier. So hatten die meisten der Männer und Frauen, die sich nun am Rande von Kanton nach einer neuen Stelle umschauen, noch nie einen Arbeitsvertrag, obwohl der seit Anfang 2008 vorgeschrieben ist. Chinas Gewerkschaftsbund ACGB hat zwar angekündigt, dass er sich um die Wanderarbeiter kümmern will, doch hier ist davon wenig zu spüren. "Arbeitsvertrag? Kündigungsschutz? Gibt es hier nicht", bestätigen auch die Werber der Firmen an ihren Tischen.

Tausende Klagen

Nicht alle geben sich damit zufrieden. Anwälte berichten, dass sich immer mehr Arbeiter über unfaire Entlassungen und ausbleibende Gelder beschweren. In der Provinzhauptstadt Kanton stöhnen die Richter über die vielen Klagen, die sie zu bearbeiten haben. Die Zahl der Arbeitsrechtsfälle an ihrem Gericht habe sich im vergangenen Jahr um 75 Prozent auf 4324 erhöht, berichtet die Präsidentin des Mittleren Kantoner Gerichts, Wu Shujian. Das ist aber nur die Spitze des Eisbergs. Die meisten Arbeiter ziehen nicht vor Gericht, sondern suchen bei den Schiedsstellen der örtlichen Arbeitsämter Hilfe, da sie kein Geld für einen Anwalt haben. Oder sie demonstrieren vor verschlossenen Fabriktoren.

Die Pekinger Regierung ist besorgt. Sie weiß, dass bald noch mehr Wanderarbeiter auf der Straße stehen werden. Schon jetzt wurden nach offiziellen Angaben über 20 Millionen entlassen. Bis Jahresende könnte sich die Zahl auf 50 Millionen erhöhen, fürchten Ökonomen. Insgesamt zählt China 225,42 Millionen Chinesen als "Arbeiter vom Lande", von denen mehr als 140 Millionen außerhalb ihrer Heimatgemeinden jobben. Anders als "städtische Beschäftigte" haben sie in der Regel kein Recht auf Sozialhilfe, wenn sie ihren Job verlieren. Premierminister Wen Jiabao warnte vor einer "düsteren Lage auf dem Arbeitsmarkt". Sicherheitskräfte und örtliche Funktionäre haben die Order, Unruhen "im Keim zu ersticken". Tausende Polizisten werden in speziellen Kursen geschult, Unruhen zu bekämpfen.

Tausende Dörfer

Die Familien der Wanderarbeiter, die in den Dörfern bleiben, sind auf das Geld angewiesen, das ihre Angehörigen in den Fabriken und auf den Baustellen der Städte verdienen. Die meisten Dörfer sind bitterarm. Die Bauern verdienten 2008 im Schnitt 4761 Yuan (544 Euro) im Jahr, die Überweisungen der Wanderarbeiter mitgerechnet.

Eine Rückkehr in seine Heimat in Hunan ist für Xu keine Alternative: "Unsere Felder sind zu klein, davon kann man nicht leben." Er will einen Job, der sicher ist und mehr einbringt als die 770 Yuan (88 Euro) Mindestlohn im Monat, die viele Firmen anbieten. Bislang hatte er mit Überstunden knapp 150 Euro im Monat. Doch er weiß: Am Ende wird er jeden Job nehmen müssen, den er kriegen kann: "Mein Erspartes reicht nur ein paar Tage."