Gut Ding will Weile haben: Passanten im Pflege-Selbstversuch

Morgens in sieben Minuten waschen und anziehen, das ist die Richtlinie. "Wie lange brauchen Sie für Ihre Morgentoilette?", haben ver.di-Kolleginnen und -Kollegen aus der Altenpflege in Gera Passanten gefragt. 20 Minuten im Durchschnitt, so die Antwort.

"Altenpflege in Bewegung" - unter diesem Slogan hatte ver.di im Herbst bundesweit Aktionen organisiert, um in der Öffentlichkeit die Probleme zu verdeutlichen, die Bewohner/innen und Beschäftigte der Heime im Pflegealltag zu bewältigen haben.

In Dresden stand das Thema Fachkräftemangel im Mittelpunkt der Aktion. Johannes Hermann, ver.di-Mitglied und Betriebsrat bei der Arbeiterwohlfahrt in Dresden, war der Initiator dieser Aktion. Er will nicht länger hinnehmen, dass sich der Alltag für alle Betroffenen überwiegend um die Pflege dreht und für ein erfülltes Leben und Arbeiten Zeit und Personal fehlen. Sachsen hat bundesweit zudem noch die schlechtesten Pflegesätze. In der Pflegestufe II beispielsweise gibt es bis zu 790 Euro weniger als in anderen Bundesländern, landesweite Personalrichtwerte existieren in Sachsen nicht.

Ein anderer Pflegeansatz ist möglich

Johannes Hermann

Johannes Hermann will seine Kolleg/innen bei der AWO und bei ver.di motivieren, an die Öffentlichkeit zu gehen: Die Menschen und vor allem die Entscheidungsträger in Politik und Gesellschaft müssen informiert und bewegt werden, damit ein anderer Pflegeansatz möglich wird. Dafür sucht Hermann Verbündete. Er führt Gespräche mit den Ausbildern an Hoch- und Berufsschulen, mit den Trägern, Wohlfahrtsverbänden, Kirchen, Gewerkschaften und Betriebs- und Personalräten. Und er erfährt dabei, dass die Arbeitgeber die Probleme auch sehen. Sein Ziel ist es, ein Bündnis zu organisieren. Auch der Arbeitskreis Pflege innerhalb des ver.di-Bezirks, in dem Betriebs- und Personalräte mitarbeiten, soll wieder aktiviert werden.

Warum er sich so engagiert, ergibt sich aus seinem Arbeitsalltag und dem Willen nach Veränderung. Der gelernte Krankenpfleger und ehemalige Wohnbereichsleiter ist seit vielen Jahren freigestellter Betriebsrat.

Der Lebensalltag der Bewohner/innen darf sich nicht nur um die Pflege drehen. Soweit es geht, sollen sie selbstbestimmt und individuell leben können. "Es ist so, dass sich die Menschen dem Pflegesystem unterordnen müssen", erklärt Johannes Hermann. Alter, Krankheit und Demenz brauchen nicht nur Pflege, auch würdevolle Teilhabe am Leben, Betreuung und Zuwendung. Eben: Mensch sein.

Schwieriger Spagat

Warum das nicht oder nur eingeschränkt möglich ist, liegt an der Finanzierung. Selbst für einen willigen und seriösen Arbeitgeber ist der Spagat schwer zu schaffen: Bezahlt er seine Leute ordentlich, reicht das Personal nicht. Zahlt er schlechter und hat mehr Personal, stimmt oft die Qualität nicht. Die gut ausgebildeten Fachkräfte in der Altenpflege sind gefragt und haben ihren Preis. Wenn sich in der Ausbildung, der Anerkennung, Bezahlung und Höhe der Pflegesätze nichts ändert, wird es in Kürze ein Fachkräfteproblem geben. Das ist längst allen Beteiligten klar.

Hinzu kommen für die Pfleger/innen die Überlastung im Berufsalltag, ständiger Zeitdruck, das Aushalten der Spannung von Hoffen, Aufgeben und Abschied, die schwere körperliche Arbeit und eben die schlechte Bezahlung. Die Pflegehilfskräfte arbeiten überwiegend in Teilzeit. Das ist so gewollt, um die Spitzen mit mehr Personal abzudecken. Viele Pflegehilfskräfte müssen deshalb Aufstockbeträge beantragen, damit es zum Leben reicht. Schreib- und Büroarbeiten nehmen überhand, es gibt keine Bereitschaftsregelungen, Pflegedienstleiter haben keinen Puffer beim Personal. Bei Ausfall werden die Kolleg/innen "aus der Freizeit" geholt.

ver.di hat klare Forderungen: an die Politik, die Träger und Verantwortlichen. Ein Umdenken in der Altenpflege, mehr Personal, bessere Bezahlung, klare Regelungen der Arbeits- und Freizeiten und eine bessere Ausbildung sind nötig. Anfang nächsten Jahres wird es in der Altenpflege wieder Aktionswochen geben. Dann sind alle angesprochen. Kontakt zu Johannes Hermann: br-netzwerk@freenet.de