Ausgabe 03/2010
Seen ohne Ende
400 Kilometer Wanderwege rund um und vorbei an 66 Seen - Berlin hat mehr zu bieten als die Hektik einer Großstadt
Was der Osten dem Westen gebracht hat? Seen. Seen ohne Ende. Mehr als 3 000 natürliche Gewässer hat die Mark Brandenburg. Viele davon liegen in der unmittelbaren Umgebung Berlins. 66 Seen streift ein Wanderweg rund um die Hauptstadt. "Es sind eigentlich 71 Seen", korrigiert Manfred Reschke. Er ist Buchautor und Initiator des 66-Seen-Wanderwegs. "Doch die Zahl 66 klingt einfach besser." Route 66. Das setzt Bilder frei: Abenteuer, Weite, Freiheit.
Beispielsweise Wandlitzsee. Schon die DDR-Polit-Prominez wusste diese Seenlandschaft zu schätzen und ließ sich hier nieder. Der Wandlitzsee ist vom Potsdamer Platz in Berlins Mitte in 30 Minuten mit dem Regionalzug zu erreichen. Ein Freizeitparadies mit Strandbad, Restaurants und Läden. Ein Ensemble unter Denkmalschutz. Und eine Etappe des 66-Seen-Wegs. Ich gehe sie mit Manfred Reschke. "Für Westberliner gab es in den Siebzigerjahren eine Passierscheinregelung zum Besuch der DDR. Das haben wir damals gemacht, und wir fanden die Gegend um Berlin so schön, dass wir immer weitergewandert sind. Mit einem Tagesvisum konnte man sich nicht so weit von der Stadt entfernen. Und so habe ich mit meiner Frau in Tagesausflügen die Stadt einmal umrundet", erzählt Reschke, während wir den blauen Punkt, die Markierung des Weges, am Bahnhof Wandlitzsee suchen. "Als ich dann in Pension ging, griff ich 1998 diese alte Idee noch einmal auf. Ich wollte versuchen, die attraktivsten Punkte des Weges zu verbinden. Das habe ich innerhalb von zwei Jahren als Langzielausflugsprojekt entwickelt."
Durch die Märkische Heide zum Urstromtal
Inzwischen ist Reschkes Buch Die 66-Seen-Wanderung ein Bestseller. Sternenförmig führt der Weg um Berlin. Man kann sich die Teilstrecken - es sind 17 Etappen - wie ein Kuchenstück herausschneiden und tageweise wandern: durch Märkische Heide und märkischen Sand, durch Wälder und Alleen, Moränenlandschaft und Urstromtal. Oder, wie wir heute, vorbei an neun Seen vom Bahnhof Wandlitzsee bis Biesenthal. Wir folgen dem blauen Punkt. Die Sonne scheint, vom Schnee sind nur noch wenige Überreste geblieben, und man ahnt schon das blaue Band des Frühlings. Im Garten des Gasthauses "Versunkene Glocke" erhascht ein einzelner Gast vorfrühlingshafte Sonnenstrahlen. Manfred Reschke, der auch Führungen im Berliner Wanderverein anbietet, erzählt die Legende vom untergegangenen Kloster im ersten der drei Heiligen Pfühle, den Mini-Seen, die wir gleich passieren werden.
Der blaue Punkt verläuft auf dem öffentlichen Verbindungsweg Wandlitz-Ützdorf. Reschke führt mich am romantischen Uferweg entlang. Wir wandern durch jetzt noch kahle Buchenwälder, vorbei am Regenbogensee und über eine Anhöhe zum Liepnitzsee. "Einer der naturbelassensten Seen", sagt Reschke. "Das Wasser habe ich schon getrunken." Der Liepnitzsee ist ein Quellsee, ohne Zuflüsse aus Siedlungen oder landwirtschaftlich genutztem Gebiet. Einer der saubersten Seen der Region. "Und einer der schönsten", sagt Reschke.
Wir wandern am sonnigen Ufer entlang, vorbei an mehreren Badestellen. Rasten am Bootssteg der Fähre, die ab Frühjahr auf die kleine Insel im See übersetzt. Wir ziehen weiter durch den lichten Buchenwald. Werfen einen Blick auf das etwas abseits vom Weg gelegene Seechen. Es ist so klein, dass man sich bei der Seenvielfalt drum herum gar nicht mehr um einen Namen mühte. "Das kommt in dieser Gegend öfter vor", sagt Reschke.
In Ützendorf rasten wir im Jägerheim zünftig bei Forelle und Schwarzbier. Manfred Reschke spricht von Wandertypen. Er schätzt mich als Naturflaneur und Genusswanderer ein, weil ich ihn zum Bier überredet habe, obwohl er seine Vesper im Rucksack dabei hat. Er erzählt von der kommunikativen und sozialen Funktion des Wanderns, von den gesundheitlichen Vorteilen und davon, wie gut es ihm auf dem Pilgerweg nach Santiago gefallen hat. Reschke ist den Pilgerweg von Frankreich bis Santiago de Compostela gelaufen. Er ist ein leidenschaftlicher Wanderer.
Wo der Froschkönig wohnt
Wir wandern weiter zu den nördlichen Ufern des Obersees. Auf der Uferpromenade mit Bänken, Rastplätzen und Badestellen erreichen wir das Dorf Lanke. Ein typisch brandenburgischer Ort. Ein Ausflugsziel. Der renovierte Ortsladen ist geschlossen, dafür ist der Kinderhort, ein DDR-Plattenhäuschen, noch geöffnet. Die Straßen sind menschenleer. Das ehemalige Schlosshotel ist verfallen und am Zaun davor wirbt die ortsansässige Country Musik Gruppe um Nachwuchs. Im großen Speisesaal des gutbürgerlichen Hotels Seeschloss trinken zwei ältere Damen Kaffee. "Im Sommer kommen hier Busladungen voller Touristen", erzählt Reschke. Er führt mich durch den Ort in den Schlosspark, vorbei an einem riesigen, algenüberzogenen Wasserbecken, wo wahrscheinlich der Froschkönig wohnt. Am Schloss vorbei setzen wir die Wanderung auf einem Holzsteg fort, der über sumpfiges Gelände führt. Ein verwunschener Märchenpark mit uralten Eichen, in dem die ersten grünen Pflänzchen sachte sprießen. Wir kommen zum Hellsee und nähern uns auf seinen schmalen Uferwegen unserem Tagesziel. Biesenthal. Immerhin: 17,5 Kilometer. Und fast immer waren wir ganz allein unterwegs. Ganz fern und doch so nah der hektischen Großstadt Berlin.
"Die Geschichte Biesenthals", erzählt Reschke, "ist bedrückend." Urkundlich sei es seit dem 13. Jahrhundert bekannt, doch wurde der Ort durch Brände immer wieder zerstört. "Obwohl Biesenthal früher als Luftkurort bekannt war, ist es dem Ort bisher nicht gelungen die touristische Bedeutung der Nachbarn Wandlitz und Lanke zu erreichen", sagt er.
In Biesenthal nehmen wir den Zug zurück nach Berlin. Manfred Reschke hat vorher akribisch alle Abfahrtszeiten aufgeschrieben. Er ist so perfekt organisiert, wie sein Wanderführer es vermuten ließ. Alle Touren im Buch sind auf Karten verzeichnet, ihr Verlauf genauestens beschrieben. Alle Anfangs- und Endpunkte der Seenweg-Etappen sind mit dem öffentlichen Nahverkehr erreichbar. Doch man muss genau hinschauen, weil manchmal eine Buslinie ins immer leerer werdende Dorf eingestellt wurde. Aufpassen muss man auch bei der Markierung des Weges: Sie ist manchmal auf der 400 Kilometer langen Strecke um Berlin sehr gut, manchmal lässt sie den Wanderer aber auch allein. "In den alten Bundesländern, aber auch in Thüringen und Sachsen gibt es alle möglichen Landschaftspflegeverbände und Heimatverbände, die diese Wege betreuen. Diese Struktur fehlt in Brandenburg", sagt der wandererfahrene Reschke. "Und ich kann ja nicht mit einem Eimer blaue Farbe durch die Landschaft ziehen." Das wäre bei den Gemeinden wohl nicht so gerne gesehen, aber machen würde es der akribische Wegschöpfer schon ganz gern.
MANFRED RESCHKE: Die 66-Seen-Wanderung. Zu den Naturschönheiten rund um Berlin. Trescher Verlag, Berlin 2009, 4. Auflage, 257 Seiten, 13,95 €