Eine gute Ausbildung ist ein wichtiger Schutz vor Arbeitslosigkeit, wenn auch kein Arbeitsplatzgarant. Doch viele Jugendliche finden nur schwer einen Beruf, der zu ihnen passt. Die Abbruchquote unter Auszubildenden ist entsprechend hoch, vor allem unter Jugendlichen mit Migrationshintergrund, die immer wieder Vorurteilen ausgesetzt sind. Der Weg ins Berufsleben ist für alle oft mehrspurig wie auch der dieser drei bayerischen Jugendlichen

Links: Fatma Temirci und ihr Arbeitsplatz im "Café Backhaus" in Günding bei DachauMitte: Marize Vulalo und ihr Arbeitsplatz bei der Caritas in FürthRechts: Deniz Mazrek macht eine Ausbildung bei OBI in Raubling/Rosenheim

Von Monika Goetsch (Text) und Erol Gurian (Fotos)

Nur ein paar Autos parken vor dem Nettomarkt in Günding. Auf den Feldern drum herum dampft die Gülle. An einem Tisch vor dem "Café Backhaus" sitzt ein älterer, in sich gekehrter Mann und trinkt Kaffee. "Manche trinken hier gleich mehrmals täglich Kaffee", sagt Fatma Temirci. Leute, die Zeit haben. Die 18-Jährige humpelt hinaus. Ihr Fuß ist geschwollen. Sie steht zu viel. Aber sie wischt die Tische und strahlt ihren Stammgast an, wie immer. 1500 Euro auf die Hand bekommt Fatma monatlich dafür, dass sie den Laden der Eltern führt, "1500 Euro nur für mich". Einen schwarzen Mercedes ML hat ihr der Vater auch versprochen. Fatma zögerte nicht lang, als ihr der Vater Geld und Auto anbot: Sie brach ihre Ausbildung in einer Münchner Bäckerei ab, um Geschäftsführerin zu werden. Und packte an. Jeden Morgen um fünf steht sie seither auf. Manchmal verlässt sie den Laden erst um 20 Uhr. Sie verkauft Leberkäse, obwohl sie den Geruch von Schweinefleisch nicht mag. Im Winter ist es in dem Glaskasten so kalt, dass Fatma die Hände in den Ofen steckt. Im Sommer leidet sie unter der Gluthitze. Urlaub, sagt sie, kann sie sich abschminken. Aber: Sie hat Verantwortung. Und das liegt ihr. "Ich bin stolz auf den Laden. Keiner bestimmt über mich, alles läuft, wie ich es will."

Fatma ist eine von vielen jungen Menschen, die ihre Ausbildung abbrechen. Laut Bundesinstitut für Berufsbildung (BIBB) liegt die Abbruchquote in Bayern bei 18,1 Prozent. Wie das Ausbildungs- & Zukunftsbüro "azuro" der DGB-Jugend und des DGB-Bildungswerks in München meldet, sind Schwierigkeiten mit Ausbildern und Vorgesetzten, Pflichtverstöße der Ausbildungsbetriebe sowie Lern- und Leistungsdefizite der Auszubildenden meist der Grund, den Ausbildungsvertrag aufzulösen. Auch die falsche Berufswahl spiele häufig eine Rolle. So zum Beispiel im Einzelhandel, wie Orhan Akman, Fachbereichssekretär bei ver.di sagt: "Das Berufsbild im Einzelhandel hat sich verschoben. Früher dominierten die Frauen. Heute sind attraktive Stellen wie Mechatronik oder Handwerk für Jungs rarer geworden. Um überhaupt eine Ausbildung zu machen, gehen sie in den Handel - und stellen bald fest, dass sie da nicht ihr Leben lang bleiben wollen."

Eigene Wege gehen

Glück hat, wer nach einem Abbruch nicht auf der Straße steht, sondern wie Fatma gleich richtig einsteigt ins Berufsleben. Geld und Verantwortung, das verlockt. Katharina Hauck, Berufsschulsozialarbeiterin, hat Fatma gewarnt. Wenn das mit dem Laden nichts wird, hast du rein gar nichts in der Hand, hat sie gesagt. Lass dir Zeit. Zieh deine Ausbildung durch. "Sie hat schon recht", sagt Fatma. "Aber..." Erst kündigte Fatma eine Ausbildung in einem türkischen Lebensmittelgeschäft. "Zu hart" sei ihr das gewesen, die Chefs unfreundlich. Jetzt die in der Bäckerei. Hauck ist Fatma über die Jahre eine sehr enge Vertraute geworden. "Ich liebe Frau Hauck", sagt Fatma lachend. Aber an ihrer Entscheidung hat das nichts geändert. "Die Eltern und das soziale Umfeld haben einen großen Einfluss", sagt Hauck, "der ist mitunter viel größer als unserer." Sie muss sich damit abfinden, dass ihr selbstbewusster Schützling eigene Wege geht, ohne allzu weit in die Zukunft zu schauen.

Dabei ist eine vernünftige Ausbildung ein wichtiger Schutz vor Arbeitslosigkeit und Abhängigkeit von Sozialleistungen - auch wenn sie längst keinen Arbeitsplatz garantiert. In Bayern gab es 2009 laut BIBB 98 365 Ausbildungsplätze, das sind 9,5 Prozent weniger als im Vorjahr, und eine Nachfrage von 104 927. Von diesen Plätzen blieben 4 801 unbesetzt, aber nur 687 Ausbildungssuchende völlig unversorgt, 2007 waren es noch 3 414. Bayerns Arbeitsministerin Christa Stewens, CSU, gab dann auch im Mai bekannt, im bundesweiten Vergleich stehe "Bayern beim Abbau der Jugendarbeitslosigkeit mit Abstand an der Spitze". Sie stützt sich auf Zahlen der Arbeitsagenturen. Deren Ergebnis: 2009 waren landesweit mehr freie Ausbildungsplätze als unvermittelte Bewerber bei den Arbeitsagenturen registriert. Auch das BIBB erwartet, dass sich die Lage auf dem Ausbildungsmarkt weiter entspannt - aus demographischen Gründen.

Dennoch stehen Jugendliche heute vor keiner einfachen Situation: Wie das BIBB unter Experten ermittelt hat, ist die Komplexität der Berufswelt in den vergangenen 15 Jahren gestiegen. Auch die theoretischen Ansprüche an die Lehrlinge sind gewachsen. Dem höheren Anforderungsniveau, so die Studie, stehen junge Leute gegenüber, deren Qualifikationen sich verschlechtert haben - eine wachsende Schere zwischen Anforderungs- und Eignungsprofil. Der Markt an Stellen bleibt also hart umkämpft.

Risiko Umfeld

Das trifft vor allem Jugendliche, die es schwer in der Schule, mit ihrem familiären Umfeld und mit sich selbst haben. Der aktuelle Bildungsbericht der Kultusminister bringt es auf den Punkt: Jedes dritte Kind, heißt es da, wachse in einer Risikolage auf, nur 40 Prozent aller Hauptschüler fanden 2008 einen Platz in einer regulären beruflichen Ausbildung, deutschlandweit hat jeder Sechste zwischen 20 und 30 Jahren keine abgeschlossene Berufsausbildung. Wer es nicht schafft, direkt nach der Schule eine Lehre zu beginnen, landet in einem Übergangssystem aus berufsvorbereitendem Unterricht, geförderten Ausbildungsplätzen oder Werkstätten in sozialen Einrichtungen. "In gewisser Hinsicht eine Mogelpackung", meint Hauck. "Gäbe es mehr Betriebe, die ausbilden und sozial engagiert sind, wäre das nicht nötig. Andererseits gibt es Schüler, die aufgrund ihres Verhaltens und Backgrounds intensive sozialpädagogische Unterstützung brauchen."

Solche Hilfe finden sie zum Beispiel in der "Kinderarche Berufshilfe" in Fürth. Ein paar helle Räume im Hinterhaus an einer der Verkehrsadern der Stadt: Von hier aus organisieren die Mitarbeiter der Kinderarche die sozialpädagogische Betreuung der Jugendlichen, bilden sie in eigenen Werkstätten aus oder begleiten sie als Ausbildungsträger durch eine Ausbildung. "Unsere Jugendlichen sind sozial benachteiligt. Manchmal ist es schwierig, einen Betrieb zu finden, der sie nimmt", sagt der Leiter der Kinderarche Berufshilfe, Günther Hartl. Immer wieder klagten die Arbeitgeber über das schlechte Benehmen der jungen Leute, ihren Mangel an Pünktlichkeit, "das ist ein Generationenkonflikt". Hartl führt zur Begründung an, dass der Druck in den Betrieben selbst gestiegen sei. "Ausbilden ist mühsam, darum verlangen die Arbeitgeber, dass die Jugendlichen von Anfang an gut funktionieren." Er wünscht sich von der Wirtschaft "eine ganzheitliche Sicht der Entwicklung eines Jugendlichen". Das sei zwar schwer, aber viele Jugendliche trügen eine Menge persönlicher und familiärer Probleme mit sich, die sich auf andere Lebensbereiche auswirkten "und deshalb beachtet werden müssen".

Kevin Voss, Jugendsekretär von ver.di, der sein Büro im Gewerkschaftshaus in München hat, bittet hinein in den Jugendraum. Papierrollen liegen herum, bunte Stifte mit dicken Minen, es gibt Polster und Sofas, eine behagliche Arbeitsatmosphäre. Ihn ärgert die Haltung der Arbeitgeber: "Die Ausbildung ist zu einem rein ökonomischen Faktor verkommen, das kann ́s nicht sein." Leistungsdruck, Verkaufszahlen, Konkurrenz: all dem unterlägen schon Auszubildende. Er wünscht sich eine Ausbildung "in der die Azubis nicht schon als Vollzeitbeschäftigte eingesetzt werden". Man dürfe doch nicht erwarten, "dass Jugendliche vom ersten Tag an in den Laden reinpassen, sondern muss sie da abholen, wo sie stehen." Und das ist nicht immer ein sicherer Ort.

Auf Umwegen zur Ausbildung

Zum Beispiel Marize Vulalo. Die lebenslustige junge Frau, die mit ihrer Betreuerin Caroline Malitzky wie so oft in den vergangenen Jahren in deren kleinem Büro in der Kinderarche Berufshilfe sitzt, war nicht immer so charakterfest und verantwortungsbewusst wie heute. Einen sehr umständlichen, kräftezehrenden Weg ist die Mutter von zwei Kindern gegangen, einen Weg, der ihre ganze Zähigkeit zeigt und die Fähigkeit, immer wieder neu anzufangen. Marize stammt aus Moçambique. Die Großmutter, bei der sie aufwuchs, sah sich außerstande, Marize eine vernünftige Ausbildung zu finanzieren. Also zog Marize im Juni 1994 zu ihrem Vater nach Halle. Sie war damals 13 Jahre alt, konnte kein Deutsch, war zunächst beim Vater und wurde dann von einer Pflegefamilie zur nächsten weitergereicht. Trotzdem hat sie in Bayern 1999, mit 18, den Quali geschafft - den so genannten qualifizierenden Hauptschulabschluss. Ihre erste Ausbildung in einem Hotel hielt sie nicht durch. Sie verdiente zu wenig, rackerte zu viel und häufte Schulden an: Internetbestellungen, Handyrechnungen. Also fing Marize in Fürth bei der AEG an, Fließbandarbeit. "2000 Mark, das war ein Traum." Zwei Monate später allerdings: ein Alptraum der Langeweile. Sie begann, in einem Hotel zu arbeiten, das ihr eine Ausbildung versprach, aber Insolvenz anmeldete. Vier Jahre lang jobbte sie bei Pizza Hut als ungelernte Serviererin. 2004 kam ihr Sohn zur Welt, 2007 die Tochter. Die Beziehungen zu den Vätern der beiden waren kurz und ohne Zukunft.

Marize Vulalo lebte von Hartz IV. Sie litt. Und begann sich zu fragen, was sie ihren Kindern überhaupt zu bieten habe. "Was geb' ich denen fürs Leben mit?" Über die ARGE kam sie zur Fürther Kinderarche. Eine Stunde pro Woche war sie seither dort, zwischen ihr und der Sozialpädagogin Caroline Malitzky hat sich eine gute Beziehung entsponnen. Der Leitz-Ordner Marize Vulalo ist dick. Mitte Juli hat Caroline Malitzky ihn endlich in den grauen Schrank packen können. Denn Marize hat es geschafft. Stolz hält sie ihr Ausbildungszeugnis in den Händen. Sie ist jetzt Kauffrau für Bürokommunikation. Und übernommen wurde sie von der Caritas, ihrer Ausbilderin, auch. Warum der Weg so lang war? Warum sie zwei Ausbildungsstellen aufkündigen musste, bevor sie endlich durchhielt? Wieso sie so viele Schulden angehäuft hat, dass sie bis 2014 daran abbezahlt? Vielleicht sollte man eher andersherum fragen: Wie sie es schaffen konnte, ohne Unterstützung der Eltern, in einem fremden Land, mit zwei kleinen Kindern, eine dunkelhäutige, alleinerziehende Frau, so weit zu kommen, wie sie gekommen ist. Das BIBB formuliert es so: "Besorgniserregend sind die geringeren Ausbildungschancen von Jugendlichen mit Migrationshintergrund. Diese können nur zum Teil mit der Wohnregion, dem familiären Hintergrund und einem insgesamt unterdurchschnittlichen Bildungsniveau in Verbindung gebracht werden... Es spricht einiges dafür, dass ein Migrationshintergrund bereits für sich allein genommen bei der Lehrstellensuche von Nachteil ist."

An die Hand genommen

In Rosenheim hat man hervorragende Erfahrungen dabei gewonnen, Ehrenamtliche an die Seite von Jugendlichen zu stellen, die es schwer haben, erste Schritte in den Arbeitsmarkt zu tun. Thomas Sammüller, selbst Arbeitspädagoge in einer Werkstatt für behinderte Menschen, ist einer der Helfer, ein kräftiger, Halt gebender Mann, das, was die Bayern ein "Mannsbild" nennen. Lediglich ein Vierteljahr hat es gedauert, bis Deniz Mazrek, der Schützling des 45-jährigen Ehrenamtlichen im Patenprojekt "Jugend in Arbeit", seinen Ausbildungsvertrag in der Hand hielt. Die beiden sitzen hinter zwei Tassen Kaffee im Gewerbegebiet der Stadt. Deniz schmal, ein wenig zurückhaltend, daneben Sammüller, der nicht allzu viele Worte machen will um die Sache. Vertraut und freundlich sind die beiden miteinander. Richtung Süden türmen sich die Voralpen auf. Hinter Deniz ist OBI, ein OBI-Baumarkt wie überall, geräumig, flach und nüchtern. Aber es ist der Laden, der Deniz vor einem Jahr die entscheidende Chance gab.

Der junge Mann hatte es nie besonders leicht: Seine Eltern zogen vor 19 Jahren aus dem Kosovo ins Inntal. Unterstützung in der Schule erhielt Deniz kaum. Seine erste Lehre im Einzelhandel brach Deniz ab - die Chemie stimmte nicht. Er machte den Quali nach, versuchte sich an ein paar Bewerbungen. Allein: Die Motivation war nicht groß genug. Sammüller erklärt das so: "Deniz hat in seiner bisherigen Schul- und Ausbildungskarriere viele negative Erfahrungen gemacht, die am Ego kratzten."

Also galt es in langen Gesprächen herauszuarbeiten, was sich Deniz wünschte, was es ihm schwer machte, wo er überhaupt Chancen haben würde. Geübt wurden Bewerbungsschreiben und Bewerbungsgespräche. Sammüller ließ Beziehungen spielen, Deniz durfte ein Praktikum bei OBI machen. "Thomas hat mir den Weg geebnet. Durch musste ich da allein." Das Erfolgsgeheimnis der beiden: ihre enge, fast freundschaftliche Beziehung. Jetzt, nach einem Jahr, sind Deniz ́ Ausbilder, wie Sammüller sagt, "rundum zufrieden mit ihm und froh, extra für ihn eine Ausbildungsstelle geschaffen zu haben. Das erste Zeugnis wird wohl richtig gut ausfallen."

Einen so kompetenten Ehrenamtlichen zum Paten zu haben, ist für Jugendliche ein Zufallsglück. Wer sich kritisch mit der Situation junger Ausbildungsplatzsuchender beschäftigt, stellt fest, dass weit früher angesetzt werden muss: beim Schulsystem. So Alfred Bösl, der Leiter der Jugendberatung Hasenbergl: "Hauptschüler fühlen sich als Verlierer. Es wäre besser, wenn die Kinder länger zusammen bleiben könnten." Eine Hauptschule als Mittelschule, mit ganztägiger Schulbetreuung - das würde an der Basis helfen. Auch der Hirnforscher Ralph Darwirs, der das Buch Endlich in der Pubertät geschrieben hat, wettert gegen "die Selektionsmaschine in Bayern - das Schulsystem". Und am Rande der Mitgliederversammlung der ver.di-Jugend in München sagt Jessica Schmitt von der Gesamt-Jugend- und Auszubildenden-Vertretung der Landeshauptstadt: "Das Schulsystem ist eine Klassengesellschaft. Der Hauptschulabschluss gilt zu wenig. Man müsste das anders gestalten."

Aber auch dann, wenn ein Jugendlicher einen Ausbildungsplatz gefunden hat, sieht die Welt nicht immer rosig aus. Gerade tüftelt die ver.di-Jugend Forderungen an die Qualität der Lehre aus, die sie bundesweit einbringen möchte. Bei trotz herabgelassener Rollos schweißtreibenden Temperaturen im Rückgebäude des Gewerkschaftshauses ermittelten die Teilnehmer eines Workshops mitten in der Fußball-WM ihre eigenen Favoriten für eine attraktive Ausbildung: eine 30-Stunden-Woche, verlässliche Freizeit, genügend Personal. Und: 1000 Euro netto plus Sozialleistungen.