Ausgabe 10/2010
Es ist, wie es ist
Von Josefa Thomas
"Du gehst nie ins Heim, du doch nicht." Ich war zehn, als ich diesen Satz zum ersten Mal gesagt habe. Nichts war leichter zu geben als dieses Versprechen, bei meiner schicken, erfolgreich berufstätigen Mutter. Lange her. Seit einem halben Jahr wohnt sie jetzt in einem teuren Seniorenheim, Versprechen hin oder her. Es gab keine Wahl. Sie ist Ende 70, immer noch elegant, geistig klar, aber nach einer schweren Krankheit körperlich nicht mehr gesund. Das Haus hat eine ideale Lage, urban genug für Berlin, dicht an einem schönen Park, von meiner Wohnung aus zu Fuß zu erreichen. Es steht mitsamt seinem Garten in ihrer vertrauten Gegend. Bestens.
Und schlimm zugleich. Was ihr täglich fehlt, worauf sie gehofft hatte, sind Gesprächspartner. Die Pflegerinnen haben wenig Zeit, andere Bewohner brauchen viel mehr Pflege und Betreuung. Die Tischnachbarn in dem kleinen Speisesaal sind mehr oder minder wach im Kopf. Viele leiden unter Demenz. Frau Berger, die meine Mutter bei ihrem Einzug munter empfing, hat einen Schlaganfall erlitten und entgleitet unserer Welt zusehends. Vor ein paar Tagen hat meine Mutter ihr beim Essen zum ersten Mal geholfen, hat Frau Berger gefüttert. An ein Gespräch ist nicht mehr zu denken.
Sicher, das Zimmer meiner Mutter ist groß, wir haben es mit ihren schönsten Möbeln eingerichtet, nichts erinnert an ein Krankenhaus. Aber der Gedanke, dies sei die letzte Station...
Was macht sie noch melancholisch? All die Pfleger und Hilfskräfte - meist Männer - die sich nicht darauf einstellen können, mit wem sie gerade reden, sondern ständig einen falsch-aufmunternden und viel zu lauten Ton beibehalten. Das Essen, das natürlich nicht so ist, als würden wir zu Hause kochen. Nicht so abwechslungsreich, nicht so international, eher altdeutsch und altmodisch. Und sehr knapp kalkuliert.
Zeit heilt nicht alle Wunden
Es ist wie es ist. Mein Vater ist vor drei Jahren gestorben und meine Mutter kann sich von dem Verlust nicht erholen. Zeit heilt alle Wunden - ein unsinniger Spruch, wenn die Partnerschaft so eng war, der Gesprächsfaden nie abriss, das Füreinander-da-sein gut tat. Ohne ihn hielt sie es in der einst gemeinsamen Wohnung nicht mehr aus, fand nicht die Kraft, sich um alles zu kümmern. Deshalb die Einsicht: Ich muss hier raus.
Die Suche nach einer neuen Lebensvariante ergab wenig: Eine Krankenschwester in die Wohnung aufzunehmen, konnte meine Mutter sich nicht vorstellen: so eng mit einer Fremden zusammen, auf Gedeih und Verderb auf sie angewiesen sein. Ihre Freundinnen eignen sich nicht für eine selbst organisierte Alten-WG. Das "betreute Wohnen" bietet zu wenig Angebote und Anregung, organisiert nur Wäschewaschen und Anlieferung des Essens.
Also die Residenz, das Heim, die Stiftung. Es sei gut, sagen Fachleute, sich rechtzeitig dafür zu entscheiden. Das hat meine Mutter getan. Aber ihre Gedanken sind nicht gefragt, wo die meisten Menschen im Haus viel medizinische Pflege brauchen. Sie könnte praktikable Verbesserungsvorschläge machen, für die aber kein Zuhörer da ist. Der Heimbeirat ist dankbar für alles - und unkritisch. Das ist meine Mutter nicht.
Trotzdem wird sie nicht zu mir ziehen. Sie will mir keine Last sein. Und ginge es ihr bei mir besser? Ich bin das einzige Kind, berufstätig und ungeeignet als Pflegerin. Eine Ärztin hat mir gesagt, dass es die meisten Familien überfordert, wenn Töchter oder Schwiegertöchter Arbeit und bisheriges Leben aufgeben und stattdessen rund um die Uhr betreuen. Die wenigsten können das, der Druck wächst dann, der Ton wird rau. Es ist oft für alle zu viel - und dann für keinen gut. Sicher ist das so. Trotzdem, das schlechte Gewissen bleibt mir.