Monopol, lebe wohl

Hermann Scheer: Der energethische Imperativ | Dass Atom- und Kohlekraftwerke Auslaufmodelle sind, ist unbestreitbar: Über kurz oder lang geht der nötige Brennstoff zu Ende. Doch wie schnell können wir das Zeitalter der erneuerbaren Energien erreichen? Schließlich geht es um nicht weniger als „den umfassendsten wirtschaftlichen Strukturwandel seit dem Beginn des Industriezeitalters“, wie der kürzlich verstorbene alternative Nobelpreisträger Hermann Scheer schreibt. Politische und wissenschaftliche Prognosen über die maximalen Kapazitäten von erneuerbaren Energien lagen stets viel zu niedrig. In den vergangenen zehn Jahren haben Privatleute und Betriebe in Deutschland 96 Milliarden Euro für Solar-, Wind- und Biogasanlagen investiert – zehnmal so viel wie die großen Stromkonzerne für neue Kraftwerke. Scheers These: Wenn es politisch nicht verhindert wird, könnte in 25 Jahren der gesamte Strom weltweit aus erneuerbaren Quellen stammen – in vielen Regionen sogar früher.

Das aber „rührt unmittelbar an die Existenzinteressen der etablierten Energiewirtschaft, die der größte und vor allem politisch einflussreichste Sektor der Weltwirtschaft ist.“ Mit allen Mitteln versuchen die Konzerne, den Prozess zu verzögern. Zum einen ist das die These von der Atomkraft und der CO2-Lagerung als Brückentechnologien. Dieser Weg ist nicht nur teuer, sondern auch unnötig und vor allem gefährlich: Ungeklärt ist nicht nur die Lagerung des Atommülls, sondern auch von Kohlendioxid. Das größte Modellprojekt in Norwegen wurde gerade aus technischen und ökonomischen Gründen gestoppt.Auch gigantische Projekte wie Solarkraftwerke in der Wüste Nordafrikas entlarvt Scheer als Mittel, um einen schnellen Wandel zur dezentralen Stromerzeugung zu verhindern. Beteiligt sind 40 Länder; die Hochspannungsleitungen werden zu massiven Bürgerprotesten führen und viele technische Fragen sind ungelöst.

Scheers Plädoyer: Die Energierevolution kann sich nur über viele unabhängige Initiativen an vielen Plätzen entfalten. Der Staat hat dafür zu sorgen, dass das Stromnetz auf Kleinlieferanten umgestellt wird, und ansonsten der Entwicklung ihren Lauf zu lassen. Bei PCs, Handys und Internet ging das schließlich auch. Dass die Schreibmaschinenindustrie dabei verschwand und Telefonanbieter sich neu orientieren mussten, war auch kein volkswirtschaftliches Problem. Wenige Tage nach dem Erscheinen des Buches ist der Autor gestorben. Ein überaus kluger und engagierter Streiter für eine bessere Welt hat uns verlassen. Demokratische Strukturen und das gemeinsame Vorgehen der „Kleinen“ waren ihm stets ein Anliegen. Nicht zuletzt deswegen war Hermann Scheer auch ver.di-Mitglied. Sein letztes Buch wird nun zu seinem Vermächtnis. Annette JensenHERMANN SCHEER: DER ENERGETHISCHE IMPERATIV. WIE DER VOLLSTÄNDIGE WECHSEL ZU ERNEUERBAREN ENERGIEN ZU REALISIEREN IST; KUNSTMANN VERLAG 2010, 240 S.,19,90 €


Tim Parks: Die Kunst stillzusitzen | Trotz des Trends zum authentisch erzählten Sachbuch scheint ein Reisebericht über Prostataprobleme gewagt – wäre er nicht von Tim Parks verfasst, dem brillanten britischen Romancier in Italien. „Ein Skeptiker auf der Suche nach Gesundheit und Heilung“: Wer den Untertitel misstrauisch beäugt, wird von Parks‘ Ehrlichkeit im Text dahingerafft, der nie ein so intimes Buch über den eigenen Körper geplant hatte, aber schließlich einige solcher Überzeugungen hergeben musste. Was seine beängstigenden Blasenprobleme und Nächte bedeuten, erfahren wir beim Lesen. Parks selbst braucht Jahre, um seine Schmerzen zu beachten. So reist er von Mailand zum Spezialisten nach London, vom Rafting zum Meditieren – und immer tiefer in die Ursachen hinter den Ursachen. Die fein formulierte Mixtur aus kritischen Beobachtungen und selbstironischen Erkenntnissen, zu Schreiballtag oder Sinn des Lebens, überzeugt auch prostatalose Leserinnen. jv

KUNSTMANN VERLAG, Ü: ULRIKE BECKER, 368 S., 24,90 €


Chaim Noll: Feuer | Ein Endzeitroman, der aber zwischen unserem Gestern, Heute und Morgen verortet ist, in einem parallelen Deutschland. Eine Katastrophe, das „Feuer“, hat nur einen Teil des Landes und der Gesellschaft erfasst. Im darauf folgenden Chaos stellt der Zufall eine Gruppe von Menschen zusammen, die eine Notgemeinschaft auf Zeit werden. Doch als sie nach langer Wanderung, Entbehrungen, Machtkämpfen, Todesfällen wieder von der Zivilisation aufgenommen werden, können sie nicht zurückkehren, sondern sollen resozialisiert werden. Der Preis dafür aber ist hoch, und nur Drei entkommen der Fürsorge. Chaim Noll, der sich mit seinem Roman Der Kitharaspieler als ein großer historischer Erzähler erwies, legt hier erneut ein Werk vor, das existenzielle Bedrohungen zum Ausgangspunkt von Fragen nach der Wahrheit macht, nach Gott und dem Menschen. klix

VERBRECHER VERLAG, BERLIN, 2010, 377 S., 24 €


Johanna Spyri / Peter H. Geißen: Heidi und die Monster | Halloween? Das wahre Grauen beschert uns dieses trashige Alpendrama nach Motiven der Heidi-Romane. Freilich nicht ganz ernst zu nehmen ist die schaurige Mär vom achtjährigen Kindlein, das sich im Prättigau mit heimtückischen „Niänenüütli“ (graubündnerisch für „Untote“), hohläugigen „Glaarä“ (die ins Leere starren) und gemeinen Blutsaugern herumschlagen muss. Obervampir Marus hat einst dem Heidi seine Mutter ausgesaugt und will sich nun die Tochter holen. Doch da ist der Alm-Öhi vor, der es heimlich mit des Dörflis Bäckersfrau treibt. Das Kind wird zu Sesemanns geschickt, wohin Marus ihm folgt. Unter vampirischem Einfluss mutieren die Bewohner zu lüsternen Halbdämonen. Lediglich die Dirne Tinette behält den Überblick. Gemeinsam mit dem herbeigeeilten Geißenpeter bringt sie das Heidi zurück zum Alm-Öhi, der mit Holzpflöcken, Ziegenmilch und Feuergräben den Show-Down vollzieht. hik

GOLDMANN VERLAG, 288 S., 12,99 €