Ausgabe 01/2011-02
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Von Thomas Winkler |Ein schönes Kleidchen
Hinterm Horizont geht’s weiter | Es ist bunt und es ist laut. Es wird getanzt und gesungen, übertrieben und mitgeklatscht. Hinterm Horizont, das Musical mit Liedern von Udo Lindenberg, läuft seit Mitte Januar in Berlin, und alle sind sich einig: Großartig ist es, wie Regisseur Ulrich Waller und Autor Thomas Brussig die Lieder von Udo Lindenberg, die Geschichte seines ebenso einzigen wie legendären Auftritts im Palast der Republik 1983, eine verbotene Liebe und die deutsch-deutsche Geschichte zu einem Singspiel zusammen gerührt haben.Hinterm Horizont soll noch mindestens fünf Monate lang vornehmlich Touristen anziehen, die Gesamtpakete als „Sonderzug nach Berlin“ buchen können. Das Musical ist also die weitere Vervollständigung des Portfolios eines Rocksängers. Lindenberg hat seine stets geschickt gesteuerte Wandlung zur Ikone ja mittlerweile dazu genutzt, nicht nur Musik und das dazugehörige Merchandising zu verkaufen, sondern auch Gemälde, Bücher und sogar Kreuzfahrten für Rocker. Das Musical ist da auch eine Methode der Zweitverwertung.
Lindenberg wäre aber nicht so ein begnadeter Konstrukteur des eigenen Mythos, verfolgte das Musical nicht noch weitere, weniger pekuniäre Ziele. Die Inszenierung, die er als Berater genau kontrollierte, verknüpft clever sein künstlerisches Schaffen mit der deutschen Geschichte – und das nicht nur, weil ungefähr 30 seiner Songs erklingen, während Bilder von Mauerbau und -fall auf die Bühne projiziert werden oder FDJ-Ballett getanzt wird. Dass die DDR mal wieder für laue Witze mit sächselnder Stasi und steifem Lipsi-Schritt herhalten muss, das ist nur eine Petitesse verglichen mit dem Aufwand, mit dem der Bundesverdienstkreuzträger hier zum heimlichen Helden der Wiedervereinigung stilisiert wird.
Sicherlich, der mittlerweile 64-Jährige hat seine Verdienste, er war tatsächlich der einzige Rockmusiker, der die Teilung thematisierte, nicht nur in Mädchen aus Ost-Berlin von 1973. Aber durch den „Geschichtsunterricht mit geiler Mucke und coolen Frauen“, wie Lindenberg-Darsteller Serkan Kaya Hinterm Horizont beschreibt, wird unter dem Vorwand, es handele sich ja nur um ein Musical, eben jene Geschichte ganz gehörig umgeschrieben. Lindenberg selbst nennt das, der Wahrheit „ein schönes Kleidchen“ anziehen, und träumt nun davon, dass Hinterm Horizont im Ausland zum Einsatz kommt. Auf Englisch, aber endgültig dazu bereit, der nach Selbsteinschätzung „nuschelnden Nachtigall“ den ihr zustehenden Platz in der deutsch-deutschen Geschichte zu verschaffen: als wahrer Vater der Einheit. Thomas Winkler Musical, Theater am Potsdamer Platz Berlin, Darsteller: Serkan Kaya (Erstbesetzung Udo Lindenberg) und Josephin Busch (Erstbesetzung Jessy, jung-Udos Mädchen aus Ostberlin) Tickets und Buchungen unter www.stage-entertainment.de oder Tickethotline 01805 / 44 44.
Paolo Fresu / A Filetta / Daniele di Bonaventura: Mistico Mediterraneo | Verzierter Chorgesang trifft auf Jazztrompete und Bandoneon. Ausdenken könnte sich wohl niemand ein solch bizzar anmutendes Projekt. Doch in Mistico Mediterraneo vereinen sich Elemente, die wegen ihrer speziellen Vorerfahrungen gewissermaßen aufeinander zugestrebt sind. Der an Blaskapelle, Miles Davis und heimatlicher Tradition gereifte sardische Trompeter Paolo Fresu und der Festlanditaliener Daniele Di Bonaventura begegnen hier dem korsischen Männerchor A Filetta. A Filetta steht für die jahrhundertealte Tradition korsischer Vokal-Polyphonie, die es ähnlich auch auf Sardinien gibt. Das Gesangs-Septett entwickelte diesen archaischen Gesang in den vergangenen 20 Jahren aber in zeitgenössischen Kontexten stetig weiter. Die Grenzlinien zwischen alt und neu, Folklore und Kunstmusik, Weltlichem und Geistlichem verwischen. Diese Musik geht unter die Haut und setzt sich mit größter Selbstverständlichkeit über gängige Kategorien hinweg. Und sie ist geheimnisvoll mediterran und sinnlich. rix
CD, ECM
Marianne Faithfull: Horses And High Heels | Bröselndes Herbstlaub? Knitterndes Büttenpapier? Oder doch eher das berühmte Reibeisen? Wie auch immer man die Stimme von Marianne Faithfull am besten beschreiben soll: Es ist gut, sie wieder zu hören. Horses And High Heels ist das erste Album der mittlerweile 64-jährigen Engländerin seit drei Jahren, knüpft aber musikalisch vehement an ihren Klassiker Broken English an. Vier Lieder hat die Sängerin und Schauspielerin Faithfull selbst geschrieben, der Rest stammt von Größen des britischen Indie-Pop. Aber egal, wer komponiert hat, egal, ob es sich um einen Bluesrock wie No Reason, eine sinistre Ballade wie The Stations oder ein federleichtes Folkstück wie Love Song handelt: Mit dieser einzigartigen, mit Verzweiflung panierten Stimme macht Faithfull problemlos jeden Song zu dem ihren. to
CD, Naive/ Indigo