Neue Chancen im Ländle Gewerkschaften sehen mehr Möglichkeiten, auf die Politik einzuwirken

Freude über den Wahlausgang bei der Mappus-Abschiedsparty

STUTTGART | Kurz vor den Landtagswahlen in Baden-Württemberg hatten sich rund 4000 Beschäftigte in der Stuttgarter Innenstadt versammelt und für eine bessere Krankenhausfinanzierung protestiert. Aufgerufen hatten ver.di und die Betriebs- und Personalräte von zahlreichen Krankenhäusern in Baden-Württemberg. Unter dem Motto "Baustellen nicht mit Personalstellen finanzieren" demonstrierten sie gegen die Politik der Landesregierung, die ihren Verpflichtungen bei der Finanzierung der Investitionen in Neubauten und Modernisierungsmaßnahmen seit Jahren nicht nachgekommen ist. ver.di Baden-Württemberg hatte bereits Wochen vor den Landtagswahlen eine Kampagne für einen Politikwechsel im Ländle auf den Weg gebracht.

Tschüssle Mappus

Weitaus größeren Ausschlag für die Wahlniederlage von Ministerpräsident Mappus, CDU, gaben jedoch andere Bewegungen. Seit Monaten hatten Zehntausende von Stuttgarter Bürgerinnen und Bürgern gegen das milliardenschwere Bahnhofsprojekt Stuttgart 21 protestiert. "Mappus weg" war der am häufigsten gehörte Slogan auf den zahlreichen Demonstrationen und Kundgebungen. Vor allem die Grünen hatten Grund zur Freude. Allein in Stuttgart konnten sie drei von vier Direktmandaten erringen. Das haben dann auch Tausende bei der Mappus-Abschiedsparty auf dem Stuttgarter Schlossplatz ausgelassen gefeiert.

Verstärkt wurde dieser Trend durch das Atomunglück in Japan. Die baden-württembergische Landesregierung gehörte zu den entschiedensten Verfechtern einer Laufzeitverlängerung für die Atomkraftwerke. Mappus hatte Bundesumweltminister Norbert Röttgen, CDU, deshalb sogar zum Rücktritt aufgefordert. Neckarwestheim I gehört zu den ältesten Atomkraftwerken in Deutschland. Die Atomkraftgegner hatten eine Woche vor den Landtagswahlen zu einer Menschenkette von Stuttgart bis Neckarwestheim aufgerufen. Aufgeschreckt durch das Atomunglück in Fukushima waren 50 000 Atomkraftgegner dem Aufruf gefolgt.

Die Grünen, die in der öffentlichen Wahrnehmung als die Anti-Atomkraftpartei gelten, schnellten plötzlich in den Umfragen um fünf Prozentpunkte nach oben und wurden durch die Wahlen zur zweitstärksten Partei. Die SPD musste weitere Einbußen hinnehmen und auch Die Linke, die sich Chancen auf den Einzug in den Landtag ausgerechnet hatte, verpasste dieses Ziel deutlich. Die sozialen Themen und insbesondere Bildung, bisher das nach Umfragen bedeutendste Thema, traten in den Hintergrund. Atomausstieg und Energieversorgung wurden zur Wahl entscheidenden Frage.

Trotzdem werden die sozialen und weitere Fragen von der Agenda der Gewerkschaften auch bei den Grünen schnell wieder nach vorne rücken. Die Erwartungen an die neue Landesregierung sind hoch. Abschaffung der Studiengebühren, eine Reform des Bildungssystems, mehr direkte Demokratie, die Verabschiedung eines Tariftreuegesetzes, sozialökologischer Umbau der Wirtschaft, Ausstieg aus Stuttgart 21 oder zumindest eine Volksabstimmung darüber, kostenlose Kindertagesstätten waren die zentralen Aussagen im Wahlkampf, mit denen um Wählerstimmen geworben wurde. Gleichzeitig propagieren SPD und Grüne das Ziel eines ausgeglichenen Haushaltes und die Einhaltung der Schuldenbremse.

Mehr Einflussnahme

Es wird eine wichtige Aufgabe der Gewerkschaften sein, auf die Einlösung der Wahlversprechen zu pochen. So ist etwa der Anstieg prekärer Arbeitsverhältnisse in Baden-Württemberg besonders hoch. Der dringend notwendige Politikwechsel wird auch von unserer Mobilisierungsfähigkeit gegenüber der neuen Regierung abhängen. Die Chancen auf gewerkschaftliche Einflussnahme sind nach 58 Jahren ununterbrochener Regierungsbeteiligung der CDU auf jeden Fall größer geworden.