Was die Londoner Unruhen mit 30 Jahren neoliberaler Politik zu tun haben. Und was Gewerkschaften jetzt tun können.

von Owen Jones

Die Ausschreitungen, die im August englische Städte erschüttert haben, waren traumatisch. Und sie kamen unerwartet. Diese vier Tage voller Gewalt, Plünderungen und Brandschatzungen haben zu einer wütenden Gegenreaktion geführt. Denn viele, die sich von den Unruhen am meisten terrorisiert fühlten, kommen selbst aus einigen der ärmsten Arbeitergegenden Großbritanniens.

Bei so viel Wut und Angst verspürte kaum jemand den Wunsch, die eigentlichen gesellschaftlichen Ursachen zu verstehen: Wer es versuchte, lief Gefahr, als Fürsprecher angegriffen zu werden. Aber die Konservativen zögerten nicht eine Sekunde, die aufgeheizte Stimmung für sich zu nutzen. Ein Wort, das in den vergangenen Wochen immer wieder in Zeitungskolumnen, auf Twitter und in Politikerreden auftauchte, war "verkommen": "verkommene Jugendliche", "verkommene Ratten" und "die verkommene Unterschicht". Vor den Krawallen wurde die sogenannte Unterschicht noch als "nutzlos" und "untauglich" denunziert. Jetzt jedoch scheint sie aus wilden Tieren zu bestehen.

Sofort schlug David Camerons konservative Regierung vor, jene Mieter von Sozialbauwohnungen, die wegen Aufruhr verurteilt wurden, und zwar zusammen mit ihren Familien, was ein eklatanter Fall von kollektiver Bestrafung ist, auf die Straße zu setzen und ihnen die staatlichen Hilfen zu entziehen. Es "sollte möglich sein, sie aus ihren Wohnungen zu werfen und zwar für immer", erklärte Cameron gegenüber Abgeordneten. Eine Reihe von Gemeinden haben dem bereits zugestimmt. Die Unruhen wurden mit dem sozialen Hintergrund der Menschen verknüpft und gleichzeitig ein Präzedenzfall geschaffen: Wenn du arm bist und ein Verbrechen begehst, wirst du doppelt bestraft.

Cameron weigert sich, irgendeinen Zusammenhang mit Armut oder Arbeitslosigkeit zu sehen, und macht einen "moralischen Zusammenbruch in Zeitlupe" dafür verantwortlich. Öffentlich hat er verkündet, die eigentlichen Ursachen seien "Kinder ohne Väter, Schulen ohne Disziplin und Belohnungen ohne Anstrengung." Einer seiner Lösungsvorschläge ist, einen Sozialstaat zu schaffen, "der Faulheit nicht belohnt". Die Schuld trügen allein die nutz- und morallosen Armen mit ihrem Lotterleben.

Die Strategie des steinreichen Premiers ist es, die Leute darin zu bestärken, dass Armut eine Folge persönlichen Versagens ist. In Zeiten, wo Sozialleistungen aggressiv zusammengestrichen werden, ist dies ein wohlfeiler Weg, sich im Volk Unterstützung für tiefgreifende Kürzungen zu sichern. Eine jetzt geplante Deckelung für Wohngeld - zumeist an arbeitende Arme gezahlt - wird Tausende aus ihren Wohnungen vertreiben. Doch solange die Armen in der Öffentlichkeit zu nutzlosen Tieren degradiert werden, ist menschliches Mitgefühl schnell neutralisiert.

Bei den Ausschreitungen haben wir das Zerrbild des "Chavs" (sprich tschäfs) in höchster Vollendung gesehen. Der Begriff "Chav" kommt wahrscheinlich von "Chaavi", dem Roma-Wort für Kind, und wurde 2004 überall im Land geläufig. Es kam zuerst in der Bedeutung von "junger Angehöriger der Arbeiterklasse in legerer Freizeitkleidung" in den Wortschatz. Aber es schwangen immer auch hasserfüllte, klassenbezogene Bedeutungen mit; ein Chav war gleichbedeutend mit "antisozialem Verhalten", "Geschmacklosigkeit", "Nutzlosigkeit", "Dummheit", "Komasaufen", etc.; in Deutschland nennt man sie wohl "Asis", "Hartzer" oder "Prolls".

Mit kreativem Hass wurde der Begriff "Chav" als Abkürzung verwendet, zum Beispiel Council Housed Associated Vermin (Vereinigtes Sozialbaugesocks), und eine bösartige Website namens ChavTowns stempelte ganze Arbeiterviertel als "voller Chavs" ab. Während positive Darstellungen von Angehörigen der Arbeiterklasse weitgehend aus den Medien verschwunden sind, blüht statt dessen das Chav-Klischee. Das berühmteste unter ihnen ist Vicky Pollard, die weiße, verkommene, alleinerziehende Mutter aus der Arbeiterklasse in der Comedy-Show Little Britain: Sie ist so blöd, dass sie eines ihrer zahlreichen Kinder gegen eine Westlife-CD eintauscht. Eine Umfrage ergab 2006, dass über 70 Prozent der im britischen Fernsehen Beschäftigten fanden, sie sei eine "zutreffende Darstellung" der weißen Arbeiterklasse.

Der "Chav" als Klischee tauchte zu einer Zeit auf, als Journalisten und Politiker aller Couleur behaupteten, wir alle - auch die vermeintlich aufstrebende Arbeiterklasse - seien nun Mittelschicht, mit einer großen Ausnahme. All das, was von der alten Arbeiterklasse übrig war, wurde zum problematischen Rest degradiert. So schrieb der rechtsstehende Journalist Simon Heffer: "Was früher einmal die ehrbare Arbeiterklasse genannt wurde, ist fast ausgestorben. Was Soziologen als Arbeiterklasse zu bezeichnen pflegten, arbeitet dieser Tage normalerweise überhaupt nicht, sondern wird vom Sozialstaat unterhalten." Sie hat sich statt dessen zu einer "verkommenen Unterschicht", dem Prekariat entwickelt. Mit anderen Worten: Wir sind jetzt alle Mittelschicht, außer den Leuten, die man als "Chav" oder "Asi" bezeichnen darf.

Für die Konservativen ist die "Unterschicht" die Ausnahme von der Norm eines Mittelschichtbritanniens. Hauptinspiration dafür war die These des US-amerikanischen Pseudo-Politologen Charles Murray: dass die Unterschicht das Produkt der vielen unehelichen Kinder von alleinerziehenden Müttern sei. New Labour unter Tony Blair - der selbst stolz verkündet hatte: "Wir sind jetzt alle Mittelschicht" - nannte die Ausnahme vom Akzeptablen die "sozial Ausgegrenzten". Wie Blairs ehemaliger Strategiechef Matthew Taylor mir erklärte, lege der Begriff nahe, "dass ‚ich mich selber ausgrenze‘, dass mein eigenes Verhalten sich in meinem gesellschaftlichen Status abbildet." Mit anderen Worten: Wer außerhalb von Mittelschichtbritannien bleibt, ist selbst schuld daran.

Dies ist der ultimative Triumph von Margaret Thatchers konservativer Regierung, die in den 1980er Jahren die Marktwirtschaft entfesselte und deren neoliberale Politik Großbritannien dann grundlegend verändert hat. Thatcher behauptete einst, dass "es keine wirkliche Armut in diesem Land mehr gibt"; wenn es Armut gebe, dann nur, weil "die Leute nicht haushalten und nicht mit ihrem Einkommen umgehen können und nun mit gravierenden grundlegenden Persönlichkeits- und Charakterschwächen dastehen." Der Thatcherismus begründete einen politischen Konsens: Alle sollten danach streben, zur Mittelschicht zu gehören. Wer nicht mithalten konnte, gehörte bestraft und diskriminiert. Die alten Stützen des Großbritanniens der Arbeiterklasse kamen bei ihr unter Beschuss: Industrieunternehmen, die ganze Kommunen ernährten, wie Minen, Werften und Fabriken; Institutionen wie Gewerkschaften und Sozialwohnungsbaugesellschaften; und Werte wie Solidarität, die einem rauen Individualismus wichen. Arbeiterstolz und -identität haben die Thatcher-Jahre nur schwer beschädigt überstanden.

Die gezielte Spaltung von "Mittelschicht" und "Chavs" hat die wirkliche Arbeiterklasse bis zur Unkenntlichkeit entstellt. Das bedeutet nicht, dass die Arbeiterklasse sich nicht verändert hätte. 1979 arbeiteten in Großbritannien über sieben Millionen in der Produktion; heute sind es gerade einmal zweieinhalb Millionen. Die Menschen arbeiten weniger in Minen, Werften und Fabriken als in Callcentern, Supermärkten und Büros. Der Einzelhandel ist der zweitgrößte Arbeitgeber, und es gibt heute ebenso viele in Callcentern Beschäftigte, wie es zu Spitzenzeiten Kumpel im Bergbau gab. Arbeit ist heute sauberer, körperlich weniger anstrengend und grenzt Frauen nicht mehr so stark aus. Aber sie ist unsicherer, weniger angesehen und wird gering bezahlt. Ein Supermarkt aber kann nicht das Herz einer ganzen Kommune sein, wie es eine Fabrik oder ein Stahlwerk einst waren.

Der Zusammenbruch der Industrie hatte für Großbritanniens soziales Gefüge weitreichende und zerstörerische Folgen. Durch den Mangel an sicheren Arbeitsplätzen, die das entstandene Vakuum hätten füllen müssen, haben sich viele der Arbeitersiedlungen nie wieder richtig erholt. Die Zahl der Unbeschäftigten, die Arbeitslosen- oder Arbeitsunfähigkeitsunterstützung beziehen, ist in ehemaligen Industrieregionen nach wie vor besonders hoch.

Junge Männer aus der Arbeiterklasse konnten früher mit 16 von der Schule abgehen und eine anständig bezahlte Ausbildung in der Industrie machen. Das war der Zugang zu einer angesehenen Arbeit, das war Quelle von Stolz und Selbstwertgefühl und half den Leuten, ihrem Leben eine Struktur zu geben. Das ist es, was die rücksichtslose De-Industrialisierung Thatchers zerstört hat. Die Jugendarbeitslosigkeit erreicht heute Rekordhöhen: Mehr als ein Fünftel aller 18- bis 24-Jährigen hat keine Arbeit. Selbst viele von den Glücklichen, die Arbeit gefunden haben, leiden unter tiefer wirtschaftlicher Unsicherheit, verursacht durch die schwierige Lage am britischen Arbeitsmarkt: Mehr als 1,26 Millionen Menschen, die keine Vollzeitbeschäftigung fanden, haben sich stattdessen mit Teilzeitarbeit abfinden müssen. Weitere 1,5 Millionen Zeitarbeiter können jederzeit gefeuert werden, machen denselben Job für weniger Geld und haben weniger Rechte, wie zum Beispiel auf bezahlten Urlaub oder Abfindungen.

Erst krank, dann gekündigt: Eine Familie wird obdachlos. Weil sie die Miete nicht mehr zahlen können, müssen sie ihre Sozialbauwohnung verlassen

Eine große Gruppe junger Leute hat das Gefühl, dass sie keine sichere Zukunft hat - ein Gefühl, das in dem Maße gewachsen ist, wie die Regierung die Educational Maintenance Allowance abgeschafft hat. Diese ist mit dem deutschen Bafög vergleichbar, und hatte es jungen Leute aus armen Verhältnissen ermöglicht, auch nach dem 16. Lebensjahr weiterhin in der Schule zu bleiben. Inzwischen haben sich die Studiengebühren verdreifacht und so Studenten erdrückende Schulden aufgebürdet. Selbst wenn es nur ein kleiner Teil der Jungen ist, die sich an den Ausschreitungen und Plünderungen beteiligen, so sind es doch genug, um auf den britischen Straßen für Chaos zu sorgen.

Es gibt eine Kraft, von der ich glaube, dass sie dies aufhalten kann - und das ist die Arbeiterbewegung.

Natürlich wäre die wahre Lösung, allen jungen Menschen das Gefühl zu vermitteln, dass sie eine echte Zukunft haben - indem sichergestellt wird, dass alle auch nach dem 16. Lebensjahr Zugang zu Bildung haben und dass alle anderen qualifizierte, gut bezahlte und angesehene Ausbildungsmöglichkeiten und Arbeitsplätze bekommen. Aber es gibt wenig Aussicht, dass dies unter einer Regierung geschieht, die wiederholt jungen Angehörigen der Arbeiterklasse die Tür vor der Nase zugeschlagen hat.

"Statt Frustration und Verzweiflung anwachsen zu lassen, muss die völlig verständliche Wut junger Angehöriger der Arbeiterklasse organisiert und in eine gewaltfreie, politische Richtung gelenkt werden."

Dies kann mit kleinen Schritten beginnen. Im Bezirk Haringey - wozu der Unruheherd Tottenham gehört, - hat die Gemeinde das Budget für Jugendarbeit um 75 Prozent gekürzt. Eine gewerkschaftlich geführte Kampagne würde offene Türen einrennen. Sie könnte die Jugendlichen und sogar breitere Bevölkerungsschichten mobilisieren, denn viele würden die Kürzungen im Jugendbereich angesichts der jüngsten Ereignisse als Wahnsinn betrachten.

Aber es braucht mehr Ehrgeiz. In den 1920er und 1930er Jahren hat die Nationale Arbeitslosenbewegung NUWM all jene organisiert, die durch die Wirtschaftskrise ihre Arbeit verloren hatten. Sie war verantwortlich für die legendären "Hungermärsche". Die Arbeiterbewegung, die weiterhin stagniert oder sogar schrumpft, muss die Arbeitslosen wieder organisieren, insbesondere die jungen Leute aus der Arbeiterklasse. In den 1930er Jahren hat es die Labour-Partei nicht geschafft, sich vernünftig mit der NUWM zu verständigen; diesmal muss die Haltung einer solchen Bewegung gegenüber eine andere sein.

Wegen der steigenden Unsicherheit auf dem Arbeitsmarkt - insbesondere im Dienstleistungssektor - sind die Gewerkschaften als organisierende Kraft zunehmend in der Kommune und auch am Arbeitsplatz gefragt. Die jüngsten Ereignisse zeigen nur, wie dringend dies ist. Wohnortgebunde Organisation ist zu einer der wichtigsten Aufgaben der Arbeiterbewegung geworden.

Und im Zentrum dieser organisatorischen Tätigkeit muss unsere Jugend stehen. Die Schaffung einer landesweiten Jugendbewegung - finanziert und unterstützt von den Gewerkschaften - wäre ein Anfang. Sie hätte eine Reihe von Hauptforderungen, wie kostenlose Bildung und sichere Arbeitsplätze mit guter Bezahlung. Neben der Organisation von Demonstrationen und friedlichen Protestaktionen müsste sie sich kreativ der jungen Leute annehmen, die wenig Zeit für die alten Methoden politischer Organisation haben. Vor allem aber würde sie den jungen Menschen aus der Arbeiterklasse - einer zutiefst unterrepräsentierten Gruppe - eine politische Stimme verleihen.

Politisch geführt, könnten die Frustrationen der jungen Leute bei der Veränderung der Gesellschaft sogar helfen. Die Arbeiterbewegung trägt die Verantwortung, dass dies auch tatsächlich geschieht. Wenn sie dabei scheitert, so fürchte ich, werden die August-Unruhen von noch viel Schlimmerem in den Schatten gestellt werden.

Im weiteren Sinne hat die Verteufelung der Arbeiterklasse vor allem etwas mit Macht zu tun. Die Ursachen liegen in der Schwächung der Institutionen der Arbeiterklasse - nicht zuletzt der Gewerkschaftsbewegung - und am Mangel an Vertretern der Arbeiterklasse im Parlament. Deshalb ist der Kampf für eine starke Gewerkschaftsbewegung so wichtig, in Großbritannien ebenso wie in Deutschland: um Arbeitern eine Stimme am Arbeitsplatz zu geben und um für eine angemessene politische Vertretung zu kämpfen. In einer Zeit, da in der ganzen westlichen Welt Arbeiter und ihre Wohnorte von massiven Kürzungen bedroht sind, ist die Rolle der Gewerkschaften wichtiger denn je.

Siehe auch Bericht Seite 8

Aus dem Englischen von Carsten Hinz


Owen Jones (26) lebt in London. Der Journalist und Historiker war Gewerkschaftslobbyist im britischen Parlament. Jetzt im Juni ist in Großbritannien sein Buch Chavs - The Demonization Of The Working Class im linken Verlag verso (versobooks.com) erschienen. In seiner investigativen Recherche rechnet er mit 30 Jahren neoliberaler Politik ab und geht der Frage nach, wer und was das Image der Arbeiterklasse so demontiert hat: Vom einstigen "Salz der Erde" zum "Abschaum" von heute. "Es ist höchste Zeit, wieder über Klassenunterschiede zu reden", sagt er. Unter owenjones.org führt er einen Blog.

"Statt Frustration und Verzweiflung anwachsen zu lassen, muss die völlig verständliche Wut junger Angehöriger der Arbeiterklasse organisiert und in eine gewaltfreie, politische Richtung gelenkt werden"