Ausgabe 11/2011
Für viele geht es schon ums Überleben
Griechenland ist im Wahlkampf. Während diese Zeitung in Druck ging, wurde über die Bildung einer Übergangsregierung im Land verhandelt. Sie wird von allen Parteien im Parlament außer den beiden linken, der Kommunistischen Partei Griechenlands und der Linksallianz SYRIZA, unterstützt werden. Und sie soll in den nächsten Monaten die Verabschiedung und Umsetzung der mit den Gläubigerstaaten vereinbarten Abkommen über einen Schuldenschnitt und ein neues Darlehensprogramm über die Bühne bringen. An der dramatischen Sparpolitik zu Lasten der lohnabhängigen Menschen wird sich dabei nichts ändern.
Eine Änderung des Sparkurses hängt davon ab, wie stark die linken Kräfte aus den wahrscheinlich im nächsten Februar anstehenden Wahlen hervorgehen werden. Noch deutet nichts auf einen Sieg der Linken hin, trotzdem könnte eine Kräfteverschiebung zu ihren Gunsten der starken Widerstandsbewegung auf der Straße und in den Betrieben neuen Aufwind geben.
Von der am 1. November verkündeten Idee, die Bevölkerung in einem Referendum über den Schuldenschnitt und seine Folgen abstimmen zu lassen, ist wenige Tage später jedenfalls nicht mehr die Rede in Griechenland.
"Es ist schon fast schizophren", sagt Vangelis, gestandener Linker seit seiner Jugendzeit. "Einerseits unterstützt du jeden Streik, weil du weißt, wie wichtig der Widerstand ist. Andererseits bist du geradezu erleichtert, wenn die öffentlichen Verkehrsmittel mal fahren." Wie Vangelis dürfte es zurzeit vielen in Griechenland gehen, wo man sich seit anderthalb Jahren ausdauernd gegen die brutalsten je erlebten Einschnitte bei Löhnen, Renten, Arbeitsrechten und Sozialstaat wehrt.
Streiks und 1000 Demos
Mehr als 1000 Demonstrationen hat die Polizei seit Jahresbeginn gezählt. Erst im Oktober hat eine Streikwelle das Land erschüttert, die in dem zwölften Generalstreik seit Beginn der Sparmaßnahmen gipfelte. Täglich streikten Ärzte, Lehrer und Busfahrer; Beamte besetzten ihre Ministerien, Gemeindearbeiter die Rathäuser. Wochenlang säumten meterhohe Müllberge die Straßen Athens, weil die Müllfahrer streikten.
Gegen den Willen von Millionen Betroffenen und trotz der Proteste von mehreren hunderttausend Menschen vor dem Parlament verabschiedete die griechische Regierung am 20. Oktober ein weiteres Gesetzespaket, mit dem die Gehälter der Staatsbediensteten erneut gesenkt werden, die schrittweise Entlassung von 100.000 öffentlichen Angestellten in den nächsten Jahren eingeleitet, der Steuerfreibetrag unter die Armutsgrenze gedrückt und auf 5000 Euro reduziert wird.
Darüber hinaus sieht die Gesetzessammlung eine mehrjährige Aussetzung der Tarifbindung für die Unternehmen vor, die nicht den Arbeitgeberverbänden angehören. Das wird dazu führen, dass zahlreiche Unternehmer aus den Verbänden austreten und alle tariflichen Standards ausgehebelt werden. Auch der am 26. Oktober ausgehandelte Schuldenschnitt für Griechenland würde daran nichts ändern. Im Gegenteil, danach soll eine internationale Aufsicht die strikte Durchsetzung aller Maßnahmen überwachen.
Arbeitslosigkeit und Elend
Dabei haben diese Maßnahmen die Wirtschaft des Landes bereits in die Knie gezwungen und Teile der Bevölkerung ins Elend getrieben. Die offizielle Arbeitslosenquote lag schon im Sommer bei 16,5 Prozent, bei den Jugendlichen sind derzeit sogar 42 Prozent ohne Job. Nach einer Studie der Berenberg-Bank im Auftrag der Financial Times Deutschland ist die Wirtschaftsleistung des Landes seit 2008 um 13 Prozent gesunken, der private Konsum ist 15 Prozent niedriger als vor drei Jahren. Angesichts von Löhnen und Renten, die bis auf die Hälfte gekürzt wurden, ist aus dem Widerstand der Betroffenen gegen die Maßnahmen ein harter Kampf um den bescheidenen Wohlstand geworden.
Für viele Griechen geht es bereits ums nackte Überleben. Armenspeisungen berichten von einer neuen Klasse von Obdachlosen, bestehend aus Menschen mittleren Alters mit hohem Bildungsstandard, die keine Aussicht auf eine Neueinstellung haben, wenn sie einmal in der Arbeitslosigkeit gelandet sind. Tausende Rentner können sich nicht einmal mehr die fünf Euro Praxisgebühr für den Arztbesuch leisten, ganz zu schweigen davon, dass man durch den Abbau im öffentlichen Gesundheitsdienst mitunter schon monatelang auf einen Termin beim Kassenarzt wartet.
Doch der Wille zum Widerstand hält in Griechenland an. Die Streiks werden immer wieder von spontanen Protesten begleitet. So war es zum Beispiel bei den Festlichkeiten zum Nationalfeiertag am 28. Oktober, als Massenproteste gegen die Regierungspolitik vielerorts im Land die sonst üblichen Paraden vereitelten. Heike Schrader