Unangekündigt besuchen Inspektoren der Internationalen Transportarbeiter-Förderation (ITF) Schiffe, die unter Billigflagge fahren. Wollen die Reedereien nicht über Tarifverträge verhandeln, greifen die Gewerkschaften auch mal zu ungewöhnlichen Maßnahmen

Steht die Arbeit still, verursacht das für den Reeder Kosten

von Heike Langenberg

Der philippinische Seemann winkt Inspektor Ruud Touwen von der Internationalen Transportarbeiter-Förderation (ITF) und seinen drei ehrenamtlichen Helfern nach. Ein kurzes Lächeln nur, eine kleine dankbare Geste, dann steht er wieder mit ernstem Gesicht am oberen Ende der Gangway auf der "Marnedijk", die im Hamburger Hafen festgemacht hat. Dort schiebt er seinen Wachdienst. In seiner Heimat sind Kontakte zu Gewerkschaften verpönt. Vor allem ist da die große Sorge, auf einer schwarzen Liste zu landen und auf keinem Schiff mehr anheuern zu können. Doch die vier Männer von der ITF, die das Schiff gerade verlassen, haben dafür gesorgt, dass er und drei seiner Kollegen die Überstunden bezahlt bekommen, die ihnen wegen ihrer Arbeit an Feiertagen zustehen: umgerechnet 210 Euro.

"Mir geht es auch darum, den Reedern zu zeigen, dass wir sie beobachten", sagt Ruud Touwen, als er wieder unten am Kai angekommen ist. Immer mehr würden versuchen, an den Besatzungen zu sparen. Seit 32 Jahren besucht der hochgewachsene Holländer mit dem mittlerweile weißen Haar Schiffe im Auftrag der ITF. Zuvor ist er selbst auf einem Kreuzfahrtschiff zur See gefahren. Vor Panama hat er damals sogar einen erfolgreichen Streik angezettelt, als es Fleisch nur noch für die Passagiere geben sollte. Mittlerweile koordiniert er von Bremen aus die Arbeit der holländischen und deutschen ITF-Inspektor/innen, verhandelt Tarifverträge und kontrolliert ab und zu noch Kreuzfahrtschiffe.

Ein Schiff ohne Tarifvertrag? Da geht für einen halben Tag nichts mehr

Ihre Überstunden werden jetzt auch an Feiertagen korrekt bezahlt

Gefährliche Fracht, gute Bedingungen: alles ok an Bord der YM Umberty

Im Urlaub zur Inspektion

Zur ITF-Aktionswoche ist er wie auch die anderen Inspektor/innen mit ehrenamtlicher Unterstützung unterwegs. Meist sind es Hafenarbeiter, die sich Urlaub für die Aktionswoche genommen haben. Heute Morgen prüfen sie mit Touwen die Verträge des Container-Schiffs "Marnedijk". Ein kleineres Schiff, das unter der Flagge Zyperns für eine holländische Reederei fährt. Die Besatzung stammt aus Russland, der Ukraine und von den Philippinen, 21 Männer insgesamt.

Logbuch, Verträge, Überstundenlisten - rasch trägt die Besatzung die von Touwen gewünschten Unterlagen zusammen. Hat ein Schiff einen Tarifvertrag mit der ITF abgeschlossen, haben deren Inspektor/innen das Recht auf Besuche und Einsicht in diese Unterlagen. Schnell stößt der Holländer auf Unstimmigkeiten. "Haben Sie mal eine Liste der philippinischen Feiertage?", fragt er den russischen Kapitän Anton Menchikov. Der wirkt noch etwas verschlafen, als er in Jeans, Badelatschen und grau-blauem Ringelshirt in das schmucklose Büro getappt kommt, in dem er und seine Offiziere formelle Angelegenheiten mit Besuchern erledigen. Er zuckt mit den Schultern, nein, die hat er nicht. Ein Anruf in der ITF-Zentrale in London, und Touwen bekommt die gewünschte Liste. Sein Verdacht bestätigt sich. Die Überstunden, die den Seeleuten laut Tarifvertrag für die Feiertage in ihrer Heimat zustehen, die auf ein Wochenende fallen, sind bei ihrer Heuerabrechnung nicht berücksichtigt worden.

"Die zahlen, was sie wollen, nicht, was sie müssen", sagt er später. Nicht immer gehe das so klar aus den Unterlagen hervor wie in diesem Fall. Dann müsste sich die Besatzung bei der ITF beschweren - aber sie habe oft Angst, anschließend gekündigt an Land zu sitzen.

Während sich Kapitän Menchikov telefonisch und per E-Mail bei der Reederei das OK für die fällige Nachzahlung einholt, schaut sich Ruud Touwen den Teil des Schiffes an, in dem sich die Besatzung in ihrer Freizeit aufhält. Eine kleine Küche, links und rechts davon je eine Messe, auf der einen Seite essen die Offiziere, auf der anderen die Mannschaft. Sie sind Ess- und Aufenthaltsraum zugleich. Es ist sehr eng. Vier Monate sind die Offiziere und der Kapitän meist an Bord, die übrige Besatzung hat vorwiegend Verträge über zehn Monate. Zeit für einen Landgang ist selten, die Liegezeiten der Schiffe sind knapp bemessen. Der Kontakt zur Familie wird über E-Mail und Telefon gehalten.

Nicht abgedeckte Speisen im Kühlschrank

Mit geübtem Blick geht Touwen umher, vermisst die Deckel auf Mülleimern, entdeckt nicht abgedeckte Speisen im Kühlschrank, angebrochene Sprühsahneflaschen, die ungekühlt auf einem Schrank stehen. Schnell geht er noch in die Vorratsräume, prüft Haltbarkeitsdaten von Lebensmitteln, schaut, ob sie fachgerecht gelagert sind. "Warum haben sie so wenig frische Lebensmittel hier an Bord?", fragt er den Offizier, der ihn begleitet. "Wir werden heute Nachmittag beliefert", versichert er glaubhaft.

Der wache Kapitän an Bord der YM Umberty: Yuang-Chang Wang

Währenddessen verteilen Henri Zobel und Harry Tischmann Infomaterial der ITF und kleine Geschenke an die Seeleute, Feuerzeuge und Kugelschreiber mit dem ITF-Logo. Wie die Arbeitsbedingungen sind, wollen sie wissen. "Gut, gut", bekommen die beiden Hafenarbeiter aus Rostock und Wismar zu hören. Richtig überzeugt sie das nicht, aber es bleibt die Hoffnung, dass sich die Seeleute bei der ITF melden, wenn sie Probleme haben. "Ich will sehen, wie die Bedingungen auf den Schiffen sind", sagt Zobel. Sonst sehe er die Leute nur an der Luke, beim Beladen, für weitergehende Kontakte bleibe wenig Zeit. "Es ist schön, dass wir hier mal über den Tellerrand schauen können", ergänzt sein Kollege aus Wismar. Dafür nimmt er auch Urlaub oder seine freien Tage.

Währenddessen hat Kapitän Menchikov das OK von der Reederei aus Rotterdam. Im Beisein der ITF-Truppe ruft er die vier philippinischen Seeleute zu sich. Ängstlich kommen die vier jungen Männer ins Büro. Unsicher nehmen sie die Dollarscheine, die an Bord von Schiffen übliche Währung, bedanken sich, gehen schnell wieder, als ob sie befürchteten, dass ihnen das Geld gleich wieder abgenommen wird. Auch das sei schon vorgekommen, sagt Touwen. Da helfe das enge weltweite Netz der ITF-Inspektoren. Hätten sie Zweifel, würden sie den Kollegen im nächsten Hafen bitten, auf dem Schiff noch einmal nach dem Rechten zu sehen.

Bereits morgens um fünf hat Ruud Touwen in verschiedenen Datenbanken die Schiffe gesichtet, die in Hamburg an diesem Tag erwartet werden. Er gleicht sie mit einer ITF-Datenbank ab. Hat das Schiff einen Tarifvertrag? Wann ist es das letzte Mal von einem Inspektor besucht worden? Gab es Beanstandungen? Für die Aktionswoche hat die ITF in der Seemannsmission "Duckdalben" im Hamburger Hafen eine Zentrale eingerichtet. Hier treffen sich morgens Inspektor/innen und Freiwillige, stärken sich mit Kaffee und belegten Brötchen, besprechen sich und brechen von dort in vier Teams auf, um die ins Visier geratenen Schiffe zu besuchen.

Der Kapitän schläft noch

Donnerstagmorgen fahren gleich zwei Teams zur MSC Fabiola. Ein Schiff ohne Tarifvertrag, das der deutschen Reederei Peter Döhle gehört. Es ist eins der größten Containerschiffe der Welt, bis zu 14 400 Containereinheiten können in den Laderäumen und an Deck wie bunte Bauklötze gestapelt werden. Am Heck weht die Flagge Liberias. Bereits eine Woche zuvor hat Susan Linderkamp, ITF-Inspektorin in Bremen, dem Kapitän eine "notice of warning" überreicht, eine Aufforderung, Tarifverhandlungen aufzunehmen. Geschehen ist bislang nichts. Am Kai des Hafenbetreibers Eurogate angekommen, geht ITF-Inspektor Ulf Christiansen mit seinem Team gleich an Bord. Ein Offizier bringt sie in den Büroraum. Statt des Kapitäns kommt ein technischer Inspektor der Reederei, der gerade an Bord ist. Unfreundlich teilt er den Männern mit, dass der Kapitän noch schlafe und frühestens in zwei bis drei Stunden zu sprechen sei. "Gut, dann sind sie für uns jetzt der offizielle Vertreter der Reederei", sagt Ulf Christiansen. Sachlich und ruhig erklärt er dem Mann, dass die Reederei jetzt zwei Stunden Zeit habe, sich mit Tarifverhandlungen einverstanden zu erklären. Geschehe das bis 13 Uhr nicht, werde das Be- und Entladen gestoppt.

Tarifvertrag erkämpft: Ulf Christiansen verlässt die MSC Fabiola

Aus diesem Grund ist das zweite Team unten am Kai geblieben. Seine Mitglieder reden mit den Hafenarbeitern. "Die Jungs warten nur", sagt Nic Jackschenties, der selbst bei Eurogate arbeitet und sich für die Aktionswoche frei genommen hat, um die ITF zu unterstützen. Die Hafenarbeiter dort seien selbst gewerkschaftlich gut organisiert, da sei es für sie keine Frage, auch für bessere Arbeitsbedingungen der Besatzungen zu kämpfen. Ulf Christiansen und seine Männer richten sich unterdessen an Bord ein. Sie hören, wie der Reedereivertreter aufgebracht telefoniert: "Die haben mir die Pistole auf die Brust gesetzt." Als bis 13 Uhr keine Reaktion der Reederei kommt, fordert Ulf Christiansen die Hafenarbeiter auf, ihre Arbeit an dem Schiff einzustellen. Plötzlich herrscht Ruhe in diesem Teil des Hafens. Wo eben noch die hochbeinigen Vancarrier die Container von der Abladestelle zu ihrem vorgesehen Platz im Hafen brachten, stehen nur noch die rund 20 ITFler in ihren gelben Warnwesten. Die Hafenarbeiter sind weitergezogen, das nächste Schiff wartet auf Entladung.

An Bord wird jetzt taktiert. Angeblich ist bei der Reederei niemand zu erreichen, der über die Aufnahme von Verhandlungen entscheiden kann. Doch Ulf Christiansen ist optimistisch: "Ich habe das klare Gefühl, dass der Reeder nicht damit gerechnet hat, dass die Arbeit hier eingestellt wird." Auch die Zeit arbeitet für die Gewerkschafter. Die MSC Fabiola muss bis 23 Uhr ausgelaufen sein, denn bei ihrer Größe braucht sie die Flut, um die Nordsee zu erreichen. Nur so kann sie ihren Fahrplan halten. Als dann noch bekannt wird, dass der Charterer darauf besteht, dass auch die 177 noch fehlenden Container mitgenommen werden, hellt sich die Stimmung der Wartenden zusehends auf.

Die Erfolgsmeldung kommt um 18.43 Uhr. Ulf Christiansen teilt den mittlerweile am Kai Frierenden mit, dass sie erfolgreich waren. Die Reederei habe zusagt, für dieses Schiff und drei weitere aus der Flotte Tarifverträge abzuschließen. Außerdem sollen sieben auslaufende Verträge im nächsten Jahr verlängert werden. Als die Bestätigung dieser telefonischen Ankündigung per E-Mail kommt, gibt er das Zeichen, dass die Ladearbeiten fortgesetzt werden können.

Die Solidarität der Hafenarbeiter bringt's

"Ein Riesenerfolg", freut sich auch Barbara Ruthmann. Die Leiterin der ITF-Billigflaggenkampagne hat die Woche vom Aktionsbüro in den Duckdalben aus koordiniert. "In der Wirtschaftskrise haben etliche Reeder die Tarifverträge gekündigt", sagt sie. Dabei sei ein Teil der Krise hausgemacht, die Reeder hätten in den Boomjahren zuvor Überkapazitäten aufgebaut. Deswegen ist für sie der Erfolg mit vier neuen Tarifverträgen besonders wichtig: "Das konnte nur gelingen, weil die Hafenarbeiter solidarisch die Arbeit an dem Schiff eingestellt haben."

Noch haltbar? Ruud Touwen (links) prüft auf der Marnedijk Lebensmittel

Doch auch für sich selbst haben die Hafenarbeiter in diesem Jahr während der Aktionswoche gekämpft. Morgens um acht erwarten fünf von ihnen die norwegische Fähre Antares im Hafen von Lübeck-Travemünde. Als das große grün-weiß lackierte Schiff dort festmacht, entrollen sie ihr Transparent im eisigen Westwind. "ITF-Vertrag heute sichert uns Hafenarbeit morgen", steht dort. Hier geht es nicht um Billigflaggen, an Bord der Fähre haben Seeleute einen Teil der Arbeit von Hafenarbeitern übernommen: das Entlaschen, also das Lösen der Ladung, die während der Überfahrt mit Gurten festgezurrt war. Laut Tarifvertrag ist das nur zulässig, wenn die zuständige Gewerkschaft zugestimmt hat. Doch die sei nicht einmal gefragt worden, sagt ITF- Inspektor Bernd Losch.

Also lassen sich die Hafenarbeiter Zeit mit dem Entladen. Ganz in Ruhe ziehen sie mit ihren Zugmaschinen die Lkw-Anhänger vom Schiff. Ein erstes Zeichen an den Reeder. Abends beim Beladen wiederholen sie das Ganze noch mal, ebenso nachts bei einer anderen Fähre. So verzögert sich deren Abfahrt. "Das verursacht Kosten", sagt Bernd Losch. Um pünktlich zu bleiben, müssten die Fähren schneller fahren, der erhöhte Treibstoffverbrauch mache die Fahrt teurer.

"Das Entlaschen durch die Seeleute ist ein erster Versuch", sagt Willi Steinberg, Hafenarbeiter aus Lübeck und seit fast 18 Jahren bei der Aktionswoche mit dabei. Wenn der funktioniere, sei es nur noch eine Frage der Zeit, bis gering bezahlte Seeleute aus fernen Ländern immer mehr Aufgaben von Hafenarbeitern übernehmen, ist er sicher. "Schade nur, dass das viele unserer jungen Kollegen nicht verstehen", bedauert er. "Heute denken viele nur an sich." Dann übernimmt er wieder das Transparent und macht sich mit dafür stark, dass auch ihm und seinen Kollegen im Hafen ihre Arbeit bleibt.

ITF

Die Internationale Transportarbeiter-Förderation (ITF) vertritt weltweit Verkehrsbeschäftigte. ver.di ist eine der angeschlossenen Gewerkschaften. Ein Teil der Arbeit ist die Billigflaggenkampagne. Schiffe unter diesen Flaggen haben keine Nationalität im eigenen Sinne, daher kümmert sich die ITF als internationale Organisation um deren Besatzungen. Rund 130 ITF-Inspektor/innen gibt es weltweit in vielen Häfen. Sie arbeiten eng zusammen und tauschen Informationen über Schiffe aus. Sie schließen nicht nur Tarifverträge ab und kontrollieren deren Einhaltung, sie kümmern sich das ganze Jahr über auch um die Lebens- und Arbeitsbedingungen der Seeleute an Bord. Im Kampf um Tarifverträge werden sie oft von Hafenarbeitern unterstützt.

In Deutschland sind fünf ITF-Inspektor/innen tätig: je zwei in Rostock und Hamburg, eine in Bremen. Koordiniert wird deren Arbeit von Ruud Touwen, der sein Büro ebenfalls in Bremen hat. Einmal im Jahr findet eine internationale Aktionswoche statt. 2011 wurden dabei rund um die Ostsee, aber auch in Hamburg und den Bremer Häfen rund 300 Schiffe kontrolliert und umgerechnet mehr als 71.000 Euro Heuern eingetrieben.

www.itfglobal.org