Ausgabe 11/2011
Pflege im Minutentakt
Im Unternehmen PFLEGEN & WOHNEN fordern die Beschäftigten Anerkennung und Tarifvertrag
Katharina Trumpf (25), Andrea Seidel (26) und Undine Schulz (23) (v. l.), drei examinierte Altenpflegerinnen: "Wir streiken heute, weil wir erreichen wollen, dass bei PFLEGEN & WOHNEN alle für die gleiche Arbeit das gleiche Geld bekommen. Die Neuanfänger dürfen nicht dadurch benachteiligt werden, dass sie ein niedrigeres Gehalt als die Pflegekräfte bekommen, die schon länger dabei sind!"
Nadine Pawelka (35) hat die Zeiten vor Einführung der Pflegeversicherung noch erlebt. 1992 war sie Hamburgs jüngste Auszubildende zur Pflegefachkraft. Nach ihrem Examen 1995 hat sie in unterschiedlichen Einrichtungen und zeitweise auch in der ambulanten Pflege gearbeitet. Sie wollte unbedingt Altenpflegerin werden: Der Dienst am Menschen - das war es, was sie wollte.
Um sechs Uhr in der Frühe beginnt ihre Schicht bei PFLEGEN & WOHNEN mit der Übergabe durch die Nachtwache. Danach muss sie - unterstützt von Pflegehilfskräften - die zehn Bewohner/innen in ihrem Verantwortungsbereich für den Tag fertig machen. Das heißt: Windeln wechseln, Waschen, einmal in der Woche wird daraus für jede/n Bewohner/in ein "Duschtag", Umbetten, Anziehen ... Immer in Hetze, weil sie schon ab 7.30 Uhr für die Vergabe der Medikamente zuständig ist, was bis zum Frühstück um 8.30 Uhr erledigt sein muss. Dazwischen Verbände wechseln, Insulinspritzen setzen, sich um die Alten kümmern, die künstlich ernährt werden und, und, und.
Die Zuwendung bleibt auf der Strecke
Gegen 9.30 Uhr bereitet sie Arztvisiten vor und widmet sich der minutiösen Erfassung aller Tätigkeiten in ihrem Verantwortungsbereich. "Das macht inzwischen 70 Prozent meiner Tätigkeit aus, entgegen meinen Erwartungen." Gegen 12 Uhr unterstützt sie die Pflegehilfskräfte bei der Ausgabe des Mittagessens und der Medikamente. Danach folgen die Protokollierung des Vormittags und die Übergabe an die nächste Schicht ab 14 Uhr: Pünktlicher Dienstschluss ist eher die Ausnahme.
In der zeitgetakteten Pflege bleibe die Zuwendung zu den alten Menschen auf der Strecke. Die sei im Abrechnungssystem nicht vorgesehen. "Ich mag meinen Beruf nach wie vor, aber die unwürdigen Bedingungen, die unseren Alltag in der Minutenpflege prägen, zeigen Wirkung. Ich nehme meine Sorgen mit nach Hause. Hätte ich einen Wunsch frei, würde ich den Gesundheitspolitikern sagen: Macht die Pflege für uns familienfreundlicher, damit unsere Familien nicht den Preis für unser Engagement zahlen müssen! Sorgt dafür, dass wir mehr gesellschaftliche Anerkennung bekommen und angemessen bezahlt werden. Erinnert Euch: Die Würde des Menschen ist unantastbar! Und vergesst nicht: Auch Ihr werdet alt und werdet auf Pflege angewiesen sein."
Sabine Schwede (29), Pflegehilfskraft mit einem 30-Stunden-Vertrag bei PFLEGEN & WOHNEN kennt die beschriebenen Belastungen. Ihr Tagesablauf ähnelt dem von Nadine. Allerdings ist sie als nicht examinierte Kraft weniger mit der medizinischen Versorgung der alten Menschen betraut und hat nichts mit der Organisation der Arbeitsabläufe zu tun. Ihre Schicht beginnt um 13.30 Uhr mit dem Wechseln von Windeln, der Unterstützung beim Toilettengang usw. und endet um 20 Uhr, wenn all die Tätigkeiten des Nachmittags mit Hilfe von Strichcodevorlagen eingescannt worden sind. Bezahlt wird schließlich nur, was minutiös erfasst ist. Während ihrer Schicht sind zwei examinierte und zwei nicht examinierte Kräfte zusammen für 46 Patienten/innen verantwortlich.
"Zufrieden bin ich, wenn ich am Ende meiner Schicht weiß, dass es den Bewohner/innen heute gut geht. Unzu-frieden bin ich, wenn ich wieder einmal viel zu wenig Zeit für ein freundliches Gespräch hatte und getrieben durch den Nachmittag hetzen musste." So gerate die Pflegekraft schnell in einen unausweichlichen Widerspruch zwischen dem Leitbild "Wir nehmen den ganzen Menschen wahr!" und dem pflegerischen Alltag im Minutentakt. "Dabei kann ich nicht anders, als Beziehungen zu meinen Alten aufzunehmen. Ich möchte sie auch in den Arm nehmen können."
Am Ende 1000 Euro netto
Auch Sabine wünscht sich mehr gesellschaftliche Anerkennung für ihren Beruf. Für sie besteht ein seltsamer Widerspruch zwischen der Anerkennung und guten Bezahlung der Ärzte und der Missachtung und den Magerlöhnen der Pflegekräfte, die oft doch nur deren verlängerter Arm seien. Es könne nicht richtig sein, dass ihr am Monatsende gerade mal 1000 Euro netto blieben.
Rolf in der Stroth (55) ist der Betriebsratsvorsitzende von PFLEGEN & WOHNEN, Hamburgs größtem Pflegeunternehmen mit 1600 Beschäftigten und 13 Pflegeeinrichtungen. Um die Sorgen und Nöte der Beschäftigten kümmert sich der insgesamt 17-köpfige Betriebsrat. Es gibt vier Freistellungen, verteilt auf sechs Personen.
Beruf immer unattraktiver
Für Rolf in der Stroth werden in diesem Tarifkonflikt all die Widersprüche deutlich, die die Branche kennzeichnen. Durch die Verweigerung eines Tarifvertrags versuche der Arbeitgeber, sich Wettbewerbsvorteile gegenüber anderen Anbietern zu verschaffen - auf Kosten der Beschäftigten. "Warum sollen wir Beschäftigten die Widersprüche des Pflegesystems alleine bezahlen? Und wer bei der Bezahlung spart, macht den Beruf noch unattraktiver. Allein bei uns sind 60 Stellen unbesetzt, was die Probleme im Alltag weiter verschärft. Aus Sicht des BR und von ver.di wäre eine Qualitätsoffensive von PFLEGEN & WOHNEN als Abgrenzungsmerkmal zu anderen Anbietern die bessere Antwort!"
Im Pflegealltag klafften die Erwartungen an einen sinnstiftenden, helfenden Beruf und die Erfahrung des Zeitdrucks unter dem Diktat der Minutenpflege bei chronischer Unterbesetzung mehr und mehr auseinander. "Das führt bei unseren Beschäftigten zu erheblichem Frust. Die Verweildauer im Beruf ist auf fünf bis acht Jahre gesunken. Wir Betriebsräte müssen uns im beruflichen Wiedereingliederungsmanagement immer häufiger mit Fällen von Burn-out befassen!" Diese Probleme könnten weder die Betriebsräte noch ver.di alleine lösen. Rolf in der Stroth meint, es müssten eine gesellschaftliche Debatte geführt und folgende Fragen endlich geklärt werden:
- Wie schaffen wir es, das Problem nicht länger auf die pflegenden Angehörigen zu verlagern?
- Wie wollen wir unsere alten Menschen zukünftig versorgen, und was ist uns das wert?
- Wie rückt der Mensch wieder in den Mittelpunkt, und nicht die Kosten?
- Wie kommen wir zu einer aktivierenden statt einer nur funktional versorgenden Pflege?