HENRIK MÜLLER ist Redakteur bei ver.di PUBLIK

Streiken ist in der bundesdeutschen Öffentlichkeit längst nicht mehr so verpönt wie noch vor einigen Jahren, als immer gleich der Untergang des Abendlands drohte, wenn Gewerkschafterinnen und Gewerkschafter ihr Grundrecht in Anspruch nehmen wollten. Zur Tarifauseinander-setzung im öffentlichen Dienst konnte sich 1992 das Kölner Boulevardblatt Express noch die - nicht nur sprachlich - verunglückte Titelschlagzeile "Streik: Deutschland droht das Chaos" erlauben. Im März 2012 mag sich selbst Springers Bild nicht mit den 130.000 Streikenden der Vortage anlegen, sondern schickt als Kommentator lieber den renommierten ehemaligen "Deutschlandradio"-Intendanten Professor Ernst Elitz vor. Der nimmt unmissverständlich das erste Lohnangebot der Arbeitgeber an Müllkutscher, Krankenpfleger und Busfahrerinnen Maß: "Zu wenig für den Dienst am Bürger".

Wie kommt es zu solcherlei Stimmungswechsel der Boulevardpresse? Man kann diesen Blättern gewiss allerhand Missetaten vorwerfen, aber nicht, dass ihre Macher kein Gespür für Volkes Stimmung hätten. Und die ist zunehmend geprägt von der Überzeugung, mindestens aber von der Ahnung, dass in unserem real existierenden Kapitalismus alles Regierungshandeln nur einem Zweck dient: nicht etwa "den Nutzen des Volkes zu mehren", sondern - auf dessen Kosten - kontinuierlich die Kassen derjenigen "da oben" aufzufüllen, die ohnehin mehr als genug haben. Und deshalb genießen alle jene zunehmend mehr Sympathie der gesellschaftlichen Öffentlichkeit, die sich diesem System der Umverteilung von unten nach oben in den Weg stellen, zum Beispiel auch Erzieherinnen, Feuerwehrleute und Bademeister, wenn die sich per Arbeitskampf für eine gerechtere Verteilung des gesellschaftlichen Reichtums einsetzen.

Nun können und wollen Gewerkschafterinnen und Gewerkschafter ihre Forderungen und ihre Durchsetzungsstrategie nicht ausschließlich an der Frage orientieren, ob sie - en gros und en détail - der Öffentlichkeit gefallen. Aber grundsätzlich wird eine Tarifauseinandersetzung umso erfolgreicher für die abhängig Beschäftigten ausgehen, je besser es ihnen gelingt, für ihren Kampf die Sympathien der Bürgerinnen und Bürger zu mobilisieren.

Dieses Wohlwollen kann man sich allerdings auch schnell verscherzen, nämlich wenn man Verdacht erweckt, als einzelne kleinere Berufsgruppe lediglich seine privilegierte Stellung nutzen zu wollen, um mit einem Streik für sich, und nur für sich, ein besonders großes Stück vom Kuchen zu ergattern. Obwohl es möglich wäre, als vermeintlich Stärkerer mit den vermeintlich Schwächeren gemeinsame Sache zu machen und dem gemeinsamen Tarifkontrahenten vereint einen größeren Kuchen abzuringen. So geschehen jüngst am Frankfurter Flughafen, wo 200 Mitglieder der sogenannten Gewerkschaft der Flugsicherung als Vorfeldlotsen mit einem isolierten Arbeitskampf besondere Vorteile für sich durchsetzen wollten und wollen, die von einem Großteil ihres betrieblichen Umfelds nicht akzeptiert werden.

Da kann ihnen die Arbeitsgerichtsbarkeit noch so viel Tariffähigkeit und -mächtigkeit bescheinigen, da mag ihnen noch der eine oder andere spektakuläre Coup beim Lahmlegen von Flughäfen oder Eisenbahnnetzen gelingen: So wird aus einem Syndikat zur Durchsetzung von Einzelinteressen jedenfalls keine Gewerkschaft. Gewerkschaft ist was anderes, Gewerkschaft ist gelebte Solidarität, und die ist nicht teilbar.

Diese Art Solidarität zu sichern und fortzuentwickeln, gelingt allerdings auch nicht mittels einer fraktionsübergreifenden "Gesetzesinitiative gegen die Zersplitterung der Tariflandschaft", wie sie der Vorsitzende der SPD-Bundestagsfraktion, Frank-Walter Steinmeier, Anfang März bei Bundeskanzlerin Angela Merkel und den Fraktionschefs der anderen Parteien angeregt hat. Die Sozialdemokraten machen sich Sorgen, nein, nicht um die Beschäftigten, sondern um deren Tarifgegner: "Die jüngste Tarifauseinandersetzung am Frankfurter Flughafen hat deutlich gemacht, welche dramatischen Folgen die Aufsplitterung der Tarifeinheit für viele Unternehmen hat", so Steinmeier.

Worum es aber wirklich geht, und worum es den Gewerkschaften gehen muss, das ist die Ausweitung des Streikrechts über die Sicherung des von den DGB-Gewerkschaften bei den Arbeitsgerichten erstrittenen Arbeitskampfrechts hinaus und seine Befreiung von allen Restriktionen. Das ist zwar angesichts der herrschenden gesellschaftlichen Kräfteverhältnisse bis auf weiteres eine Utopie. Aber auch die brauchen wir.

Es genießen alle jene zunehmend mehr Sympathie der gesellschaftlichen Öffentlichkeit, die sich diesem System der Umverteilung von unten nach oben in den Weg stellen