JUDITH KERSCHBAUMER leitet den Bereich Sozialpolitik beim ver.di-Bundesvorstand

Warum gehen immer mehr Beschäftigte vor Erreichen des Renteneintrittsalters mit Abschlägen in Rente, wo doch - gerade von den Arbeitgebern immer wieder eingefordert - das Wissen und die Erfahrungen älterer Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer so dringend gebraucht werden? Derzeit sind etwa die Hälfte der Altersrenten, die neu in Anspruch genommenen werden, mit Abschlägen von durchschnittlich rund 100 Euro im Monat versehen. In Gesundheitsberufen nehmen sogar rund 65 Prozent der Neurentnerinnen und -rentner Kürzungen in Kauf. Und es gehen mehr Frauen als Männer mit Abschlägen in Rente: Im Westen sind es rund 45 Prozent und im Osten gar 82 Prozent der Neurentnerinnen. Allen ist gemeinsam, dass die Abschläge lebenslang bestehen bleiben und nicht etwa mit Erreichen der Regelaltersgrenze die volle Rente ausgezahlt wird.

Ein Grund dafür, dass immer mehr Menschen trotz empfindlicher Einbußen vorzeitig in Rente gehen, ist sicher, dass die Zugangsbedingungen zu einer Erwerbsminderungsrente durch sogenannte Reformen verschärft wurden und daher immer weniger Versicherte sie erfüllen. Hinzu kommt, dass die durchschnittlichen Zahlbeträge durch Zwangsabschläge auf Grundsicherungsniveau gedrückt worden sind. Oder liegt es vor allem daran, dass die Arbeitsbedingungen immer aufreibender werden und ein längeres Erwerbsleben nicht ermöglichen? Der aktuellen Stress-Studie zufolge sind Termin- und Leistungsdruck in Deutschland noch weiter verbreitet als im Durchschnitt der 27 EU-Länder. Gerade deshalb wären gemeinsame Maßnahmen der Arbeitgeber und der Gewerkschaften erforderlich. Die Arbeitgeber haben aber die Einigung auf eine gemeinsame Erklärung gegen Stress am Arbeitsplatz soeben platzen lassen.

Dass gerade Ältere eher auf einen Teil ihrer Rente verzichten - und das lebenslang -, als im Job unterzugehen und krank beziehungsweise kränker zu werden, ist nachvollziehbar. Hinzunehmen ist es nicht.